Es stimmt alles an diesem Vormittag in Heidenheim. Eine Debatte von zentraler Bedeutung für die mitteleuropäische Gesellschaft, mit einem jungen Gesicht, das 2017 bundesweit bekannt wurde: Alexander Jorde, der Pfleger, der vor einem Millionenpublikum Angela Merkel zur Prime Time und live die Leviten las. Mittlerweile ist er Genosse. Hier beim Landesparteitag im Südwesten wirbt er ebenfalls für mehr Personal, für eine bessere Bezahlung und dafür, "die grundsätzlich garantierte Würde des Menschen nicht tagtäglich tausendfach zu verletzen in Krankenhäusern und Pflegeheimen". Die gut 250 Delegierten beraten ein umfangreiches Konzept, konzentriert und engagiert. Überspringen will der Funke dann aber doch nicht. "Wir sind nicht mehr stolz auf das, was wir tun", sagt eine Genossin, "und deshalb können wir nicht davon profitieren, dass die neoliberale Ära endlich zu Ende geht."
Die neoliberale Ära. Fast hat sie der europäischen Sozialdemokratie das Genick gebrochen oder besser: sie langsam erwürgt. Leicht fiel es den marktradikalen ÖkonomInnen und PropagandistInnenen der Dominanz von Kapitalinteressen auch deshalb, weil die Sozialdemokratie sich selbst auf den Zeitgeist einließ wie Faust auf Mephisto. Die Kohl'sche Wende wurde in der BRD ausgerufen, als die FDP die Pferde wechselte und der Pfälzer in der Folge für 16 Jahre Kanzler blieb. Die Ellenbogen wurden ausgefahren, so demagogische wie irreführende Slogans der Sorte "Leistung muss sich lohnen" vernebelten die Köpfe.
Eigentlich wollte die Sozialdemokratie in Deutschland gegen Ende der 1980er Jahre mit ihrem neuen Berliner Programm, maßgeblich konzipiert durch den gerade verstorbenen Erhard Eppler, die Industriegesellschaft auf neue, sozial gerechtere und ökologisch nachhaltige Beine stellen: Arbeit und Umwelt versöhnen und dafür sorgen, dass "nicht zur bloßen Ware wird, was nicht zur Ware werden darf: Recht, Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Kultur, natürliche Umwelt". Einsichten wie "Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten" oder "An der Finanzierung der staatlichen Aufgaben müssen sich Unternehmen und Privathaushalte entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit beteiligen" stießen auf Kampfparolen, die vor Gleichmacherei warnten und vor einer angeblich drohenden stetigen Umverteilung, die den Leistungswillen lähme und einen unbezahlbaren, maßlosen Sozialstaat entstehen lasse. Die Wende von 1989 half mit, dass die Geschichte über die linken Visionen hinwegrollte.
Die echten Vertreter der sozialdemokratischen Idee sind rar geworden
Als einen wesentlichen Grund für den Niedergang der Sozialdemokratie – der schon in den Neunziger Jahren und keineswegs erst nach den Hartz IV-Beschlüssen beginnt – nennt der Politikwissenschaftler Dieter Segert jedenfalls ihre Orientierung "an den neoliberalen Modernisierungsversprechen". Der gebürtige Sachsen-Anhalter, der an der Uni Wien lehrt, hat sich intensiv mit Osteuropa nach dem Kollaps vor genau 30 Jahren befasst. Die dortigen Verhältnisse sind längst aus dem Blick geraten, auch wie sich sozialdemokratisch nennende Parteien das damals erfolgversprechende Label nutzten, wie sie in Polen, Ungarn, Tschechien, in Rumänen, Bulgarien, Kroatien und Litauen die Regierungschefs stellten.
10 Kommentare verfügbar
Gerald wissler
am 29.10.2019Heute "kämpfen" Sozialdemokraten nur noch für Europa, für Einwanderung und gegen Rechts.
Das ist zu wenig und gemessen daran sind die derzeitigen…