Nicht der Brexit und die nationale Frage stand im Vordergrund seiner Wahlkampf-Reden, sondern die soziale Lage im Land, dessen Lohnabhängige heute weniger verdienen als vor Beginn der Finanzmarktkrise 2008, dessen Arme und sozial Bedürftige eine Kürzungsrunde nach der anderen hinnehmen mussten, aus ihren Wohnungen vertrieben wurden und in Zero-Hour-Arbeitsverträge gezwungen wurden. Rund zwei Millionen dieser Verträge gibt es mittlerweile, die den Beschäftigten Arbeit auf Abruf (also die ständige Verfügbarkeit) auferlegen, ihnen aber keine Mindestarbeitszeit (und damit ein Auskommen) garantieren.
Corbyns Programm ist solide durchgerechnet
So ein Programm hat seit Attlee niemand mehr vorgelegt; der Aufruhr war enorm. Völlig unbezahlbar, heulte der Mainstream. Doch es war solide durchgerechnet, wie über hundert WirtschaftsprofessorInnen in einem offenen Brief erklärten: Denn parallel zu den Sozialmaßnahmen wollen Corbyn und sein Schattenschatzkanzler John McDonnell den historisch niedrigen Unternehmenssteuersatz (derzeit 19 Prozent) und den Spitzensteuersatz für Reiche anheben. Auch die Bevölkerung in den deindustrialisierten Regionen Britanniens, die angesichts von New Labour ihr Vertrauen in die Bewegung verloren hatten, gewann wieder Zuversicht.
Das Ergebnis dieses furiosen Wahlkampfs ist bekannt. Seit Attlees überraschendem Wahlsieg 1945 hat Labour nie so viele Stimmen hinzugewonnen. Die Bedeutung dieses Ergebnisses kann kaum überschätzt werden (zumal es im Schatten von zwei islamistischen Anschlägen in Manchester und London zustande kam). Erstens beendete es die von New Labours BlairistInnen stets wiederholte Mär, dass in Britannien nur eine an der rechten Mitte orientierte Politik an der Wahlurne bestehen kann. Zweitens zeigte es aller Welt, dass eine klar formulierte, kohärente Alternative zum neoliberalen Mainstream möglich ist und Menschen anspricht, die sich scheinbar von der Politik abgewandt hatten. Drittens zeigte sich, dass eine optimistische Vision ("die Hoffnung steht links", hatte Corbyns Mentor Tony Benn stets gesagt) junge Bevölkerungsgruppen begeistern kann. Und viertens schafften Corbyn und McDonnell, was undenkbar schien: Sie überzeugten rund zwanzig Prozent jener von den Eliten frustrierten 3,8 Millionen WählerInnen zurück, die 2015 für die fremden- und europafeindliche UKIP-Partei gestimmt hatten.
Und so stellt sich die Frage, ob Corbyns Strategie der notleidenden europäischen Sozialdemokratie und den mit ihr verbundenen Gewerkschaften als Beispiel dienen könnte. Antwort: Im Prinzip ja. Aber nur, wenn sie nicht bloß da und dort ein paar Reförmchen verlangen oder in Aussicht stellen, ein wenig an Hartz IV herumschrauben – und gleichzeitig die Agenda 2010 für grundsätzlich richtig halten und weitere Privatisierungen vorantreiben.
Corbyn und Sanders machen vor, wie's geht
Und wenn sie über jemanden verfügen, der die Geradlinigkeit, Bescheidenheit und Offenheit eines Jeremy Corbyn hat. Der saß 30 Jahre im Unterhaus auf einer harten Hinterbank, hat in dieser Zeit rund 500 Mal gegen die eigene Fraktions- und Parteiführung gestimmt (beispielsweise 2003 bei der britischen Beteiligung am Irakkrieg) und blieb stets seinen Prinzipien treu. Ähnlich wie dem linkssozialdemokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders haben auch Corbyn vor allem die Jungen abgenommen, dass er nicht einfach nur linke Töne klopft und von "mehr sozialer Gerechtigkeit" spricht, um Karriere zu machen.
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Anne Eberle
am 07.07.2017