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"Ich lehne es ab, Juden zu verfolgen"

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Über den Tatort war schon längst Gras gewachsen. 14 französische Widerstandskämpfer hat die Wehrmacht im Jahr 1944 in einem Wald bei Karlsruhe erschossen, in eine Grube geworfen und verscharrt. Das Ehepaar Brändle hat sich auf Spurensuche begeben. (Teil III)

Wir stehen an der Ecke Theodor-Heuss-Allee und Breslauer Straße. An der Gedenkstele. Sie wurde am 1. April 2014 eingeweiht. 17 Angehörige der Erschossenen waren von der Stadt eingeladen worden. Es gibt eine zweisprachige Dokumentation über die Ereignisse vom 1. April 1944. Das dauerte in Karlsruhe von einem Brief, den die Brändles Ende September 2013 an Oberbürgermeister Frank Mentrup (SPD) schrieben, bis zum 6. Februar 2014, als der Kulturausschuss des Gemeinderats die Stele beschloss. "Das ging rasch, das war politisch gewollt", sagt Gerhard Brändle.

Die Stele steht auf der Seite der Straße mit den Tennisplätzen, eigentlich die falsche Seite der Theodor-Heuss-Allee, die damals Blankenlocher Allee hieß, weil sie nach Blankenloch führte, aber es ist der bessere Ort. Ein Brunnen, eine Holzbank, Grün. Auf der anderen Straßenseite ist eine "Grünabfalleinwurfstelle", hier stand vermutlich mal die Waffenkammer, ob es andere Gebäude gab, wissen wir nicht. Vor der Stele steht eine Kerze. So eine, wie sie auf Gräbern steht, in einer roten Plastikfassung.

Den Brändles fällt zu jedem der Namen, die auf der Stele stehen, eine Geschichte ein. "Das waren Männer zwischen 19 und 59 Jahren. Konservative, Sozialisten, ein Lehrer, ein Elektriker, ein Kaufmann, ein Unternehmer", sagt Gerhard Brändle. Alphons Boyer kam aus Bort-les-Orgues, einer Gemeinde im Limousin im Zentralmassiv, 80 Kilometer südwestlich von Clermont-Ferrand. Boyer hatte sechs Kinder. Sechs der 14 Ermordeten hatten Familien und Kinder. Die Brändles recherchierten die Biografien der Ermordeten. "Wir haben alle Boyers in Bort-les-Orgues angeschrieben, nichts, die katholische Kirche, es war schwierig", erzählt Gerhard Brändle. Deswegen hat Alphons Boyer, Ingenieur, der 38 Jahre alt war, als er erschossen wurde, kein Foto auf der Stele.

Klar ist, dass die Brändles weitersuchen.

Mit Boyer zusammen – es wurde paarweise exekutiert –, wurde Louis Malbosc, 59, Lehrer, Freimaurer und Journalist beim "Petit Méridional", ein der radikalsozialistischen Partei nahe stehendes Blatt, erschossen. Er musste, auf Geheiß des mit dem Deutschen Reich kollaborierenden und in Vichy residierenden Marschalls Philippe Pétain, seinen vorzeitigen Ruhestand als Lehrer beantragen. Malboscs Deckname bei der "Réseau Alliance" lautete: Furet, Spürnase. Er war verantwortlich für die Übermittlung von Nachrichten über die Wehrmacht an den britischen Geheimdienst und für Fluchtwege von Franzosen, die ihres Lebens im unbesetzten Teil Frankreichs nicht mehr sicher waren.

Boyer, Malbosc und die anderen Toten vom Schießplatz Fürstenberger Schlag gehörten zur Widerstandsgruppe Réseau Alliance. Die Alliance hatte 3000 Mitglieder, ein Viertel davon Frauen, außergewöhnlich viele für eine Organisation des Widerstands. Ab 1941, nach der Verhaftung des Alliance-Gründers Georges Loustaunau-Lacau, war Marie-Madeleine Fourcade die Chefin des Widerstandsnetzes. Die einzige Frau in Frankreich, die eine Organisation des Widerstands leitete, und auch international eine Ausnahme.

Die Mitglieder der Allianz kämpften gegen die deutsche Besatzung, sie kundschafteten geheime Rüstungsfabriken im deutschen Reich aus, etwa die in Peenemünde, die Abschussrampen für die V-1- und V-2-Raketen, übermittelten Nachrichten von Truppenbewegungen der Wehrmacht, über Fahrten von Versorgungsschiffen und U-Booten. Die Informationen gingen an die Alliierten, vor allem an den britischen Geheimdienst.

Es wurden, gerade von den in Karlsruhe Ermordeten, auch Pässe gefälscht oder gefälschte Pässe von Jean Philippe, 38, Polizeikommissar in Toulouse, Deckname "Dachshund", mit nicht gefälschten Stempeln versehen. Die Pässe verhalfen Juden und politisch Verfolgten zur Flucht. Kommissar Philippe kündigte bei der französischen Polizei mit einem Brief, in dem er schreibt: "Ich lehne es ab (...) Juden zu verfolgen (...). Ich lehne es ab, mit Gewalt französische Arbeiter ihren Familien zu entreißen: Ich bin der Auffassung, dass es uns nicht zusteht, unsere Mitbürger zu deportieren, und dass jeder Franzose, der sich zum Komplicen dieser Niedertracht macht, ein Verräter ist (...)."

Für den Satz "Ich lehne es ab (...) Juden zu verfolgen" wurde Jean Philippe in Yad Vashem als "Gerechter unter den Völkern" geehrt. Auch seine Frau Julie-Jeanne arbeitete für die Réseau Alliance. Zusammen mit ihrem Mann besorgte sie Unterkünfte für Flüchtlinge, begleitete sie Richtung spanische Grenze, beherbergte junge Männer, die sich dem "Service Travail Obligatoire", dem Pflichtarbeitsdienst im Deutschen Reich, entziehen wollten, auch Franzosen und Belgier, die sich den Truppen der Alliierten anschließen wollten. Bei ihr versteckten sich Flugzeugpiloten der Alliierten, die über Frankreich abgeschossen worden waren. Sie setzte ihre Arbeit für den Widerstand auch nach der Verhaftung ihres Mannes fort.

Julie-Jeanne Philippe wurde am 21. August 1943 verhaftet und saß in den Gefängnissen Furgole und Saint Michel in Toulouse. Sie gab in den Verhören keine Informationen preis, am 2. Februar 1944 wurde sie ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt und anschließend ins KZ Bergen-Belsen, wo sie Anfang Mai 1945 von britischen Truppen befreit wurde.

Mitglieder der Alliance kämpften gegen den nationalsozialistischen Antisemitismus auch dadurch, dass sie Juden über die Grenzen nach Spanien und in die Schweiz brachten. Länder, zu denen Mitglieder der Allianz Verbindungen hatten. Sie übermittelten Informationen über den Kriegsverlauf im Osten an die Westalliierten, denn auch hohe Militärs wie Colonel Paul Flamant, 53, militärischer Befehlshaber im Département Aveyron (und zur Beförderung zum Brigadegeneral vorgeschlagen, als er verhaftet wurde) arbeiteten im "Netz" mit.

Es sieht so aus, als habe die Alliance auch Verbindung zu Mitgliedern der Gruppe gehabt, die das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 plante. Die Alliance war über das Attentat informiert. Die Alliance war eine überparteiliche, überkonfessionelle Organisation, jenseits von Klassen und Schichten, etwas, was der deutsche Widerstand erst sehr spät und auch dann nicht auf so breiter Basis, erreicht hat. Kontakte bestanden nach Belgien, Deutschland, Spanien, Schweiz und zur "Special Operations Executive", einer nachrichtendienstlich arbeitenden britischen Spezialeinheit. 

Die Allianz stellte eine ernsthafte Bedrohung für die Nationalsozialisten dar, die aufmerksam wurden, als sich in Frankreich gut geplante, erfolgreiche Sabotageaktionen häuften, die der Besatzung und den Kriegsbemühungen der Wehrmacht erheblichen Schaden zufügten. 

Der Gestapo gelang es, einen Spitzel in die Alliance einzuschleusen, ein Teil der Widerstandsorganisation flog auf. Etwa tausend Widerstandskämpfer wurden von den Nazis verhaftet, 438 ermordet, 82 von ihnen in Baden: neun in Kehl, zwölf in Rastatt, vier in Offenburg, drei in Freiburg, acht in Bühl, 25 in Pforzheim, sieben in Gaggenau, 14 in Karlsruhe vor der Mauer im Hardtwald. 

Die meisten der 14 Männer saßen nach ihrer Festnahme zunächst im Gefängnis Fresnes, einer Gemeinde, die etwas mehr als zehn Kilometer südlich von Paris liegt, im drittgrößten Gefängnis Frankreichs, dem "Maison d'arrêt de Fresnes". Dort inhaftierte und folterte die Gestapo während der Besetzung Frankreichs Widerstandskämpfer und andere politische Gefangene. Die Verhöre durch die Geheime Feldpolizei fanden in Paris in der Rue de Saussaies im Achten Arrondissement oder in der Avenue Foch, im noblen 16. Arrondissement, statt. Dort, im Gebäude 84-86, saß die Gestapo.

Die Widerstandskämpfer kamen über Offenburg und Wolfach, dort wurden sie durch die Abwehrstelle der Wehrmacht Straßburg weiter verhört, und das heißt immer auch gefoltert, nach Freiburg, wo die Scheinprozesse vor dem Reichskriegsgericht abliefen, über das Zuchthaus Bruchsal nach Karlsruhe. Weil es um die Ausspähung von militärischen Geheimnissen ging, war die Wehrmacht für sie zuständig. 

Insgesamt landeten von den verhafteten Widerstandskämpfern 231 in Süddeutschland. 107 wurden im KZ Natzweiler durch Genickschuss ermordet, in Rastatt, Kehl, Offenburg, Freiburg, Bühl und Gaggenau brachte die SS unter Führung von Obersturmführer Julius Gehrum, Gestapo Straßburg, Mitglieder der Allianz um. In Frankreich heißt diese Mordserie "semaine sanglante en forêt noire" (Schwarzwälder Blutwoche). Erich Isselhorst, SS-Sturmbannführer und Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Straßburg, verantwortlich für die von der SS begangenen Morde im November 1944, und Gehrum, der Anführer der Mörder, wurden am 23. Mai 1948 in Strasbourg von den Franzosen hingerichtet.

SS-Sturmbannführer Helmut Schlierbach, Chef der Gestapo in Straßburg, der Vorgesetzte von Gehrum, hatte die "systematische Vernichtung von Réseau Alliance" befohlen. Ein britisches Gericht verurteilte ihn 1946 wegen anderer Verbrechen zu zehn Jahren Zuchthaus. Er kam im Jahr 1952 frei und wurde vom Justizministerium als "Spätheimkehrer" anerkannt. Ein französisches Gericht verurteilte ihn 1954 in Abwesenheit zum Tode. Da er von der Bundesrepublik Deutschland nicht ausgeliefert wurde, blieb er zunächst unbehelligt. Bei einer Vernehmung im Jahr 1961 machte er erhebliche Gedächtnislücken geltend: "Ich kann mich heute nicht erinnern ... hatte nie damit zu tun ... mir ist nie bekannt geworden ... ich weiß auch nichts davon ..."

 

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe.


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4 Kommentare verfügbar

  • Peter Leidinger
    am 16.06.2014
    Antworten
    @ M. Brunner:

    Nein, kein "Smiley" ...

    Nur: Der Mehrheit der deutschen Bevölkerung geht so etwas an dem Allerwertesten vorbei ...

    Schlichter ausgedrückt: Es interessiert fast keine Seele mehr ...
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