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Citizen Kane Kollektiv mit "Dickes Blut"

Unter den Teppich!

Citizen Kane Kollektiv mit "Dickes Blut": Unter den Teppich!
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 Fotos: Julian Rettig 

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Kein Generationenkonflikt, sondern ein Fest: Die Mitglieder des Citizen Kane Kollektivs haben sich mit den eigenen Eltern auseinandergesetzt. Das Ergebnis führen sie im Naturfreundehaus Steinbergle in Stuttgart auf und laden ein, der Familienfeier beizuwohnen.

Was wissen wir über unsere eigenen Eltern? Oft wenig genug. "Sie haben mir nie etwas davon erzählt", sagen oftmals die Erben, wenn es bereits zu spät ist, sie zu fragen. Die sechs Mitglieder des Citizen Kane Kollektivs haben ihre Eltern gefragt. Nicht die eigenen, sondern über Kreuz die anderen. Das erlaubt Fragen zu stellen, die man den eigenen Eltern nicht stellen kann wie: Magst du dein Kind? 

Alle sechs vom Theaterkollektiv sind über dreißig, aber noch nicht fünfzig Jahre alt. Sie bemerken, wie ihre Eltern langsam älter werden. Einige sind noch berufstätig, die Älteste ist deutlich über siebzig, zwei Väter sind bereits gestorben. In dieser Situation stellen sich Fragen. Wie war das damals? Was für ein Leben haben meine Eltern geführt? Welche Entscheidungen mussten sie treffen? Fragen zur eigenen Familie, aber auch zur Zeitgeschichte.

Was das Citizen Kane Kollektiv im Naturfreundehaus Steinbergle am Wartberg, auf der anderen Straßenseite des Stuttgarter Höhenparks Killesberg aufführt, ist zwar auch, aber nicht in erster Linie ein Stück über die Probleme des Alterns, über Krankheit, Pflege und Tod – oder gar eine Abrechnung mit der Elterngeneration. Es ist ein Fest: eine Familienfeier. Die Tische sind gedeckt, Wirt Darko geht durch die Reihen und fragt, wer die Polenta, wer die Suppe bestellt hat. Familienfotos der Schauspieler:innen liegen zwischen den Tellern.

Aber was ist das? "Entschuldigung, es tut mir leid", begrüßt Max (Maximilian Sprenger) die Anwesenden. "Wie gerne würden wir diese Worte öfter hören. Und wie schwer tun wir uns damit, sie auch einmal auszusprechen. Das Citizen Kane Kollektiv möchte diesen großen Schritt gehen und sich entschuldigen. Für alles was war, für alles, was ist und für alles, was noch kommen wird. Insbesondere in den nächsten zwei Stunden."

Vertauschte Rollen und durchgekaute Wahrheiten

Das kann ja heiter werden! "Ich entschuldige mich dafür, dass ich gelacht habe, als mein Bruder im Deutschen Museum von Oma eine Ohrfeige bekommen hat", sagt Ida (Ida Liliom). "Es tut mir leid, dass ich meine Vorhaut im Reißverschluss einer kurzen Trachtenlederhose eingeklemmt habe und sie erst ein Arzt im Krankenhaus rausbekommen hat." Moment: Gesagt hat das Malin (Malin Lamparter), eine Frau. Offenbar tragen die Sprecher:innen nicht immer eigene Erlebnisse vor. Oder ging es hier nur um eine drastische Pointe?

"Es tut mir leid, dass ich eigentlich unseren Kontakt die letzten Jahre eher reduziert habe und jetzt mit dem neuen Baby komm' ich plötzlich wieder an", wendet sich Christian (Christian Müller) an seine Eltern. Und zwei Sätze weiter: "Es tut mir leid, dass ich keine Kinder habe und ihr damit keine Enkelkinder von mir." Beides kann ja nicht stimmen. Es sind Sätze, die nicht unbedingt die persönliche Lebensrealität des Schauspielers Christian Müller widerspiegeln, in denen sich aber der eine oder die andere Zuschauer:in wiedererkennen kann. 

"Hier werden Rollen vertauscht, Geheimnisse aufgetischt und Wahrheiten durchgekaut", heißt es ja schon in der Ankündigung. Und dass sich "die Grenzen zwischen Tisch und Bühne, zwischen Spiel und Leben auflösen". Was folgt, ist ein zweistündiger Balanceakt zwischen Ausplaudern von Familienangelegenheiten und geschicktem, taktvollem Übergehen von Peinlichkeiten, zwischen manchmal etwas plakativem Witz und dem realen Ernst des Lebens: ein mitreißendes emotionales Up and Down, das einen zwischen vielen Lachern immer wieder auch zum Nachdenken bringt. 

Es wird keine heile Welt vorgegaukelt

"Dickes Blut" heißt das Stück, nach dem Spruch "Blut ist dicker als Wasser" – eine an sich blödsinnige Metapher, die auf die Familie, die "Blutsverwandtschaft" gemünzt ist. Ganz so eng sind die Blutsbande hier aber nicht. Ein Elternpaar lebt getrennt. Ein Adoptivkind wird erwähnt. Carinas Vater Charles Clay hatte eine zweite, amerikanische Familie. Nikita (Nikita Gorbunov) hat von seinem Vater 22 Jahre lang nichts gehört, als er sich plötzlich meldet, weil er ein patriarchales Dorf aufbauen will, um die zukünftigen Führer Russlands auszubilden.

Nein, hier wird keine heile Welt vorgegaukelt, eher schon persifliert: Nach dem ersten Interview-Video, in dem sich alle Eltern vorgestellt haben, stehen die Schauspieler:innen plötzlich draußen vor einer Glastür – wie vor der Bescherung am Heiligabend. "Jauchzet!" deklamieren sie immer wieder im Chor, während sie die Rituale der Weihnachts-, Silvester- und Geburtstagsfeiern beschreiben. 

"Ich hatte bereits das Vergnügen, mehrere Weihnachten mit der Familie Forster-Sprenger zu verbringen", bemerkt Nikita. "Nach einigen Malen kann ich den Weihnachtsabend bereits minutengenau vorhersagen." In Christians Familie muss jede Person einen Kunstbeitrag leisten. Er selbst spielt Klavier: das Menuett in G-Dur aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach. Dann geht er über zum Freejazz.

Der Unter-den-Teppich-Kehrautomat

"Wie geht ihr in eurer Familie mit Konflikten um?", lautet die nächste Frage an die Eltern. "Wir streiten uns seit 60 Jahren", sagt Christians Vater. "Die Grundlage ist immer das … in meinem Kopf – bei dir glaube ich auch", fängt er an. "Das weißt du doch gar nicht", gibt die Mutter zurück. "Ja eben, da geht's ja schon los", meint der Vater. Idas Mutter gibt das Stichwort: Viel sei unter dem Teppich gekehrt worden. 

Ida erzählt eine Geschichte von ihrem Vater, der als Kind in einem Restaurant in Budapest sitzt und auf dessen Vater, Idas Großvater, wartet: den Schauspieler, Frauenheld, Zocker, den großen Liliom. Mit seiner Geschichte ist Ida Liliom bei Citizen Kane eingestiegen. "Der Junge heißt Károly Liliom, genau wie sein Vater, und irgendwann wird er selbst zum Mann und zum Vater. Und er durchbricht die Kette der Liliom-Männer mit der Tochter, die er auf die Welt setzt. Mich." 

Idas Vater hat Familienfeiern gehasst. Er hat einen Unter-den-Teppich-Kehrautomaten gezeichnet. Als Ida 13 Jahre alt war, ist er an einer Leberzirrhose gestorben. Wohin mit den Problemen? Unter den Teppich! Ida darf ein großes Geschenk auspacken: den Unter-den-Teppich-Kehrautomat. Alle stellen nun peinliche Fragen. Und Ida darf den Automaten betätigen: "Unter den Teppich!"

Sex? Kein Thema, aber "Sex and the City"

Jede:r der sechs hat seinen oder ihren Auftritt. Max steht draußen vor dem Fenster, singt – vorproduziert aus dem Lautsprecher – "Wofür man lebt" von den Toten Hosen, während er eine Zigarette raucht und erzählt, wie sein Vater im Auto auf einer Serpentinenstraße raucht und er kotzen muss. "Ich verspreche mir an diesem Tag, dass ich niemals rauchen werde", sagt er und stößt dicke, effektvoll beleuchtete Rauchwolken aus.

"Redet ihr bei euch zu Hause über Sex?", kommt nach der Pause die unvermeidliche Frage. Die Antworten reichen von einem glatten Nein bis "Ja, natürlich". Nikita greift das Stichwort auf: "Sex ist bei uns kein Thema. Aber meine Mutter liebt Sex and the City!" Grund genug, Passagen aus der Serie mit verteilten Rollen vorzutragen. Aber auch auf schwere Themen wie das Altern oder die eigene Beerdigung sprechen die sechs Darsteller:innen die Eltern offen an.

Carinas Vater, Charles Edward Clay, lebt schon länger nicht mehr. In einem Video erzählt ihre Mutter von ihm. "Einen amerikanischen Soldaten zu heiraten, war wie ein Sechser im Lotto", sagt sie. "Wenn es denn ein weißer Amerikaner war. Wenn du verrückt genug warst, dich in einen Schwarzen zu verlieben, bedeutete dies, dass dich deine eigenen Nachbarn beleidigten und vor dir auf der Straße ausspuckten." Er war ein Charmeur, erzählt sie. Er kämpfte für seine Rechte. Er liebte kleine Kinder, konnte mit älteren aber nicht viel anfangen. "Ich weiß so wenig von ihm", habe ihre Tochter Carina vor Kurzem gesagt. Sie wolle ihn mit ihrer fünfjährigen Tochter in Atlanta, Georgia besuchen. Doch dann kam alles anders: Sie konnte nur noch seine Asche abholen.

Tot oder abgefuckt

Hier wird es sehr persönlich, was nicht bei allen so ist. Doch das Persönliche ist in diesem Fall eben auch politisch. "Bei den Eltern oder bei den Vätern stehen bei den Lebenden nur biodeutsche Namen", räsoniert Ida: "Müller, Lamparter, Sprenger. Aber wir erinnern uns an Clay, Liliom und Nikitas Dad: alle abwesend, tot oder abgefuckt. Alle migrantisch oder nicht-weiß. Wie kann einem das nicht sofort ins Auge springen?"

Das Musikprogramm wandert vor und zurück durch die Zeiten: von Janis Joplin bis Robbie Williams. Bei Marianne Faithfulls "Ballad of Lucy Jordan" überlegt Malin, dass 37 das beste Alter zum Sterben sei. Aber ihr Mann habe einmal gesagt: "Wenn man Kinder hat, dann ist Selbstmord keine Option mehr." Als das Blumenduett aus der Oper "Lakmé" von dem französischen Komponisten Léo Delibes ertönt, fragt Ida: "Mama Clay! Wussten Sie etwa, dass der Operntext lesbische Liebe beschreibt?"

Dann fangen wieder alle an, sich zu entschuldigen – und laden das Publikum ein mitzumachen. Was hier nur begrenzt funktioniert, klappt beim Tanzen besser. Zuerst fordert Carina, Profitänzerin, Christian zum Tango auf. Dann steht Max auf dem Tisch und führt vor, wie ihm Carinas Mutter den Twist beigebracht hat: immer abwechselnd links und rechts eine Zigarette austreten. Carinas Mutter geht mit ihren weit über 70 Jahren selbst noch einmal tief in die Knie. Und von Mal zu Mal stehen mehr Zuschauer:innen auf und tanzen mit.

Nein, hier werden zwar nicht alle Probleme unter den Tisch gekehrt, aber es wird auch keine schmutzige Wäsche gewaschen. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil alle ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben – von den Abwesenden vielleicht einmal abgesehen. Auf die Frage "Magst du dein Kind" antworten jedenfalls alle Eltern ohne zu zögern mit einem Ja.


"Dickes Blut" wird noch zwei Mal im Stuttgarter Naturfreundehaus Steinbergle in der Stresemannstraße 6 aufgeführt: am 6. und am 14. Dezember. 19 Uhr Essen, 20 Uhr Performance.

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