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Stuttgart-Rohracker

Abgehängt in der Großstadt

Stuttgart-Rohracker: Abgehängt in der Großstadt
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 Fotos: Julian Rettig 

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Eigentlich ist der Stuttgarter Stadtteil Rohracker ein kleines Idyll – doch die Infrastruktur im Ort stirbt einen Tod auf Raten. Nun ist auch noch die zentrale Verkehrsader gekappt.

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Wer die Innenstadt mit ihrem Bahnhofskrater sieht, könnte leicht an Stuttgarts Bewohnbarkeit zweifeln: Im Zentrum hat sich ein Großteil der Grünflächen in Betonwüsten verwandelt, rund um den Hauptbahnhof, das Europaviertel und das Rathaus sind über 90 Prozent des Bodens zugepflastert. Die dichte Bebauung in Kombination mit der Kessellage sorgt im Hochsommer für Hitzestau, mitunter wirkt es im Stadtkern, als ob mehr Autos als Menschen unterwegs wären. Und bei der durch Feinstaub und Abgase belasteten Luftqualität überlegt man sich zwei Mal, wie tief man einatmen will. Kurzum: Das Herz der Stadt ist etwas lebensfeindlich.

Daher wird es manche womöglich verwundern, dass es in Stuttgart habitable Zonen gibt. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts zählt Stuttgart sogar zu den drei deutschen Großstädten mit dem höchsten Anteil an Grün- und Erholungsflächen, nur hinter Köln und Berlin. Das hängt auch damit zusammen, wie Baden-Württembergs Landeshauptstadt entstanden ist: Das eigentliche Kernstuttgart ist gar nicht so groß, einige Nachbarorte wurden über viele Jahrzehnte hinweg eingemeindet. Obwohl das teils über 100 Jahre her ist, merkt man einigen Ortsteilen ihre frühere Eigenständigkeit noch an: Sie sind Stuttgart zugehörig, aber nicht organisch damit verwachsen.

Das hat auch Vorteile. Denn zwischen Degerloch (1905 eingemeindet) und Zuffenhausen (1931 eingemeindet) ist noch nicht alles abgeholzt, was nicht wegrennen kann. Mit Botnang (1922) kam ein Wald hinzu, zwischen Untertürkheim (1905), Obertürkheim (1922) und Uhlbach (1937) gibt es prächtige Wanderrouten, die durch Weinberge führen. Auch Rohracker, gelegen am Frauenkopf auf etwa 300 Metern über dem Meeresspiegel, war früher eine unabhängige Gemeinde und ist ein landschaftliches Idyll geblieben. Saftiges Grün, bedenkenlos atembare Luft und himmlische Ruhe – es könnte ein kleines Paradies sein.

Allerdings ist Rohracker nicht nur ein Ausflugsziel, es gibt auch circa 3.500 Menschen, die dort leben. Und wer schon etwas länger dort wohnt, kann einen schleichenden Verfall der Infrastruktur bezeugen.

Eine Bäckerei gibt es noch

Es ist Dienstag, 10 Uhr, aber wo bleibt der "Zasterlaster"? So hat das lokale Informationsportal "Wilih" den Lieferdienst der Volksbank genannt, der Geld auf Rädern bringt. Normalerweise steht eine mobile Filiale einmal pro Woche für zwei Stunden vor dem Evangelischen Gemeindehaus. Ansonsten gibt es keine Möglichkeit mehr, in Rohracker Bargeld abzuheben, der letzte stationäre Bankautomat im Stadtteil verschwand 2022. Am 19. August 2025 fehlt allerdings auch jede Spur vom Bankmobil. Das komme schon seit drei Wochen nicht mehr, berichtet eine Bäckerei-Verkäuferin. Grund dafür sei wahrscheinlich "die Baustelle".

Es ist gar nicht mal so extrem zugespitzt, zu behaupten, dass es in ganz Rohracker nur eine einzige Straße gibt: die Rohrackerstraße. Natürlich gibt es im Ort noch Straßen, die anders heißen, aber im Wesentlichen handelt es sich dabei um Abzweigungen dieser zentralen Verkehrsader. Während der Sommerferien wird hier saniert – was auch "bitter nötig" war, wie ein Busfahrer versichert, dem der Straßenbelag zunehmend Sorgen bereitet hat. Die Nebenfolge: Ein ohnehin schlecht erreichbarer Ort wird noch ein Stückchen weiter abgehängt.

Denn eine Bäckerei gibt es zwar noch in Rohracker, aber sie steht ziemlich allein auf weiter Flur. Das schleichende Sterben des Einzelhandels hat sich hier in Extremform vollzogen. Früher gab es in Rohracker die Nudelfabrik Funck, LBBW und Raiffeisenbank, den Milchladen Frick, den Schuhmacher Kolb, die Gaststätten Rose, Waldhorn und Hirsch, ein Schreibwarengeschäft, einen Friseur, zwei Metzgereien, eine Apotheke, einen Bestatter, sogar einen Fotoladen und ein Geschäft für Brautkleider. Sie sind verschwunden und haben Lücken gelassen.

Als die Schlecker-Filiale im März 2012 ihre Lichter endgültig ausknipste, setzte eine politische Diskussion ein, wie die Nahversorgung sichergestellt werden soll. Dreizehn Jahre später gibt es darauf keine überzeugende Antwort – aus den Hoffnungen, dass vielleicht ein Supermarkt in die alten Schlecker-Räumlichkeiten einziehen könnte, wurde nichts. Mit dem Slogan "Näher geht's nicht" konnte "Geo's Markt" wahrheitsgetreu für sich werben – denn abgesehen von einem griechischen Feinkostladen gab es keine Konkurrenz im Ort. Im Oktober 2024 musste jedoch auch der "Geo Markt" schließen. Der Abschiedsbrief an die Kund:innen hängt noch laminiert im Schaufenster, ein Nachmieter konnte bislang nicht gefunden werden.

Das größte Problem in Rohracker ist also nicht, dass man nur schwer an Bargeld kommt – sondern dass es kaum Gelegenheit gibt, Geld auszugeben. Für den Einkauf müssen die Rohrackerinnen und Rohracker (es heißt nicht "Rohräcker" und keinesfalls "Rohräckerer") eine Reise auf sich nehmen. Jetzt wo die "Hauptstraße" blockiert ist, wird das noch umständlicher.

Kuschelige Kleinbusse

Gisela ist 91, sie hat vor Kurzem ihren Führerschein freiwillig abgegeben, weil sie sich einfach nicht mehr so fit fühlt und Angst hat, dass vielleicht etwas passiert, wenn sie weiterhin am Steuer sitzt. Nun nimmt sie Platz im 62E, dem Ersatzverkehr für die einzige reguläre Buslinie, die normalerweise durch Rohracker fährt. (Müßig zu erwähnen, dass es keine Straßenbahn gibt.) Für die sechswöchige Übergangsphase kommen Kleinbusse zum Einsatz, mit je 14 Sitzplätzen wurde selbst fürs kleine Rohracker knausrig kalkuliert – oft wird es unfreiwillig kuschelig. "Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt", seufzt Gisela, die doch nur einen Einkauf erledigen will. Zum Glück wird sie von einer jüngeren Begleiterin unterstützt, ihrerseits ebenfalls im Rentenalter.

2019 hat Stuttgarts Verwaltungsbürgermeister Fabian Mayer (CDU) Rohracker einen Besuch abgestattet und sprach hinterher von "viel Handlungsbedarf". Finanzielle Unterstützung gab es für die Freiwillige Feuerwehr, die Turnhallensanierung der Grundschule und aktuell bekommt die Rohrackerstraße einen frischen Belag. Insgesamt ändert all das wenig daran, dass sich mitten in der Großstadt ein strukturschwacher Raum gebildet hat – und dass sich dieses Problem tendenziell verschärft.

Schon während der fetten Jahre für die Industrie mit sprudelnden Steuereinnahmen gab es aus dem Stuttgarter Rathaus wenig Unterstützung für Rohracker. Nach einer Serie von sinnlosen Großprojekten in der Innenstadt ist die Party inzwischen vorbei, der Gemeinderat sucht nun angestrengt nach Möglichkeiten zu sparen.

Wo die Versorgungsstrukturen der sozialen Marktwirtschaften kollabiert sind, entstehen allerdings auch neue Formen der Ökonomie: Als zwischen Februar und April über viele Wochen hinweg ein Sperrmüll nicht abgeholt wurde, entwickelte sich die Bushaltestelle "Rohracker" zu einem postkapitalistischen Umschlagplatz: Alte Sofas verschwanden, neue Tische kamen hinzu – one man's trash is another man's treasure. Jeden Tag gab es etwas Neues zu entdecken, bisweilen entstanden sogar kurze Diskussionen über das Eigenleben des Sperrmülls: Wer wirft denn so was Gutes weg? Und wer nimmt bitte so einen Schrott mit? Irgendwann kam dann aber doch die Abfallwirtschaft und setzte dem sozialistischen Experiment ein jähes Ende.

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