KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Andreas Mandalka, Natenom

Für das Recht, angstfrei Rad zu fahren

Andreas Mandalka, Natenom: Für das Recht, angstfrei Rad zu fahren
|

 Fotos: Joachim E. Röttgers 

|

Datum:

Der Pforzheimer Aktivist Andreas Mandalka, bekannt als Natenom, warnte stets vor Risiken im Radverkehr. Dann wurde er auf einer Straße überfahren, vor deren Gefahren er gewarnt hatte. Unbekannte verwüsteten seine Gedenkstätte. Woher kommt der Hass auf Radfahrer?  

Zurück Weiter

Mehr noch als durch die berühmtesten Architekten und die besten Stadtplanerinnen dürfte das Erscheinungsbild der Bundesrepublik durchs Auto geprägt worden sein: Der Straßenbau hat die Natur zuasphaltiert und gerade in stark bevölkerten Städten Menschen Raum genommen. Der Blick zurück in die 1920er-Jahre zeigt, wie die stetig mehr werdenden Autos Fahrradfahrer:innen dazu gedrängt hat, vermehrt auf Gehwege auszuweichen. Die geteilte Straßennutzung mit dem Auto barg seit jeher das einseitige Risiko, dass ein Zusammenstoß so gut wie immer übler für das Zweirad ausgeht. 

Einer, der zeitlebens auf die verschiedenen Gefahren der Fahrradnutzung hingewiesen hat, war der Aktivist Andreas Mandalka. Der Pforzheimer bloggte unter dem Pseudonym Natenom und machte zum Beispiel auf die Landstraße L574 aufmerksam, die Pforzheim und Neuhausen im Enzkreis verbindet. Mandalka, der auf dieser Strecke nach eigenen Angaben bis zu 1.000 Kilometer pro Monat mit dem Rad zurücklegte, erlebte hier viele knappe Überholmanöver. Im Juli 2020 wollte er es genauer wissen und hat nachgemessen. Ergebnis: Die Straße war gar nicht überall 3,75 Meter breit, wie in den Planungsunterlagen zur L574 ausgewiesen, sondern stellenweise nur 3,20.

Einen entsprechenden Hinweis mit Rechenbeispielen, bei welchen Autobreiten der Mindestabstand beim Überholen eines Rads gar nicht mehr richtig eingehalten werden kann, hatte Mandalka auch an die Bußgeldstelle Pforzheim verschickt. Regelmäßig setzte er Polizei und Staatsanwaltschaft über Regelverstöße im Straßenverkehr in Kenntnis. Das Aufklärungsinteresse war dabei meist überschaubar. Einmal äußerte sich die Stadt Pforzheim in einer öffentlichen Stellungnahme zu den Aktivitäten "eines einzelnen Bloggers", dessen über 120 Anzeigen von der Bußgeldstelle mit "erheblichem Zeitaufwand" ausgewertet würden. Dabei wies die Stadt in aller Entschiedenheit "Missverständnisse in den Sozialen Netzwerken" zurück, wonach sich die Bußgeldstelle nicht an die geltende Straßenverkehrsordnung halten würde. Es sei völlig legitim, Verfahren einzustellen, "wenn sich herausstellt, dass der Ermittlungsaufwand (z.B. zur Fahrerermittlung oder zur Beweisführung) in keinem Verhältnis zum Verstoß" stehe. 

Übersehen trotz Warnweste

"Natenom war nicht unumstritten", schrieb der SWR in einem Nachruf. "Manche Autofahrer fühlten sich von ihm provoziert." Was der Aktivist getan hatte, um Zorn auf sich zu ziehen? "Regelmäßig war er mit einem auffälligen Abstandhalter unterwegs, was ihm auch Kritik und Anfeindungen einbrachte." Manchmal sollte zum Beispiel eine seitwärts gerichtete Schwimmnudel signalisieren, wie viel Abstand nach Rechtslage Minimum wäre. Oftmals war er zudem nicht nur mit Helm, sondern auch in einer neonfarbenen Warnweste unterwegs. 

So auch am 30. Januar 2024, als Mandalka auf der L754 von einem 77-Jährigen mit circa 90 Stundenkilometern überfahren wurde. Er verstarb noch am Unfallort im Alter von 43 Jahren. Der Autofahrer gab später an, den Aktivisten übersehen zu haben. In der Konsequenz bedeutete das eine Geldstrafe von 150 Tagessätzen wegen fahrlässiger Tötung sowie zwei Monate Führerscheinentzug.

Am 11. Februar 2024 kamen Aktivist:innen und Freundeskreis des Opfers für eine Gedenkaktion am Unfallort zusammen. Nach dem Wunsch des Verstorbenen stellten sie neben Kerzen auch ein weißes Fahrrad auf, ein sogenanntes Ghost Bike, das an Verkehrstote erinnert. Es dauerte keine 24 Stunden, bis die Gedenkstätte für Mandalka verwüstet worden war: Kränze und Grablichter wurden zerstört, das weiße Fahrrad demoliert und umgeworfen. Martin Mäschke, Kreisverbandsvorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) in Pforzheim, äußerte sich im Anschluss entsetzt: "Was sind das für Menschen, die einen Menschen nach dem Tod nicht in Ruhe lassen können. Warum nur sind die Sitten in diesem Land so verroht?"

Frust und Neid am Lenkrad

Die Polizei ermittelte zunächst wegen Störung der Totenruhe, später nur noch wegen Sachbeschädigung, herausgefunden hat sie nichts. Woher die Aggressivität gegen Radfahrende kommt, untersucht der Freiburger Kognitionswissenschaftler Rul von Stülpnagel. Im Gespräch mit der "Zeit" charakterisiert er den Autofahrer als tendenziell frustriertes Wesen. "Das Auto verspricht Freiheit, Geschwindigkeit und Lässigkeit. Und was passiert, wenn ich mich in der Stadt ins Auto setze? Ich stehe im Stau." Im Hinterkopf nagen dann die vielen offenen Pläne – etwa muss der Junior noch aus dem Kindergarten abgeholt werden –, aber die Ampel ist immer noch rot. "Und die Radfahrenden ziehen auch noch an ihnen vorbei. Radfahrende sind dann für Autofahrende oft ein dankbares Objekt, um den Frust rauszulassen."

Doch nicht nur neidet das Automobil die Freiheit des Zweirads. Im Hass auf den Pedalantrieb wird auch eine Projektion erkennbar: "Mittlerweile weiß wahrscheinlich jeder Autofahrende, dass Radfahren gesünder, besser fürs Klima und besser für die Innenstädte ist", sagt von Stülpnagel. "Aber das macht es ja nicht besser, wenn man selbst keinen Bock darauf hat oder auf das Auto angewiesen ist. Trotzdem wird diesen Menschen von allen Seiten vermittelt: Hey, was du machst, ist nicht gut!" Ein Mensch wie Mandalka könne dann schnell zum Symbol für den selbstgerechten Radfahrer werden, "der sich moralisch überlegen fühlt und meint, ihnen erklären zu müssen, wie sie sich verhalten sollen" – unabhängig davon, wie viel da tatsächlich dran ist. Wenn sich Menschen unter Druck gesetzt fühlen, erklärt von Stülpnagel, könne der Mechanismus greifen, andere persönlich abzuwerten: "Sie sagen: Radfahrende sind doof, ihre Argumente zählen nichts, sie sind schlechte Menschen und haben keine Ahnung. Letztendlich ist das Selbstschutz."

Selbstschutz, der Parallelen zu fanatischen Wurst- und Schnitzelfans aufweist, die sich obsessiv an Veganismus abarbeiten. Und so wie eine Frau schnell als anstrengend gilt, wenn sie für richtige Gleichberechtigung einsteht und auf ihren Anliegen beharrt, werden insbesondere jenen Radfahrer:innen Querulantentum nachgesagt, die sich im Ressourcenkonflikt um die Straßennutzung nicht kleinmachen. Sondern die auf Einhaltung der Rechtslage pochen, Sicherheitsprobleme ernst nehmen und unverblümt auf Missstände hinweisen. Andreas Mandalka sagte dazu einmal: "Ich bestehe auf meine Rechte, wie ein Mensch im Straßenverkehr behandelt zu werden, angstfrei Fahrrad fahren zu können und gesund zu Hause anzukommen." 

Die Vision: keine Verkehrstoten

So gibt es jeden Tag acht Verkehrstote in Deutschland. Zur vollständigen Darstellung gehört, dass die Zahl der Opfer im Vergleich zu den 1970er Jahren insgesamt drastisch abgenommen hat (1980: 13.041 Tote; 2024: 2.780 Tote). Parallel dazu ist allerdings der Prozentsatz im Straßenverkehr getöteter Radfahrer unter den Opfern gestiegen (von gut 10 auf etwa 15 Prozent).

"Da ist immer diese Angst, dass es bald den nächsten treffen kann", sagt Ulrike Medger, laut der "Sächsischen Zeitung" die "lauteste Fahrrad-Aktivistin in Dresden". Im Februar trat Medger als Rednerin bei einer Gedenkfahrt im Stuttgarter Raum anlässlich des ersten Todestags von Natenom auf. Etwa 400 Menschen haben sich beteiligt. Dabei warnte sie davor, sich an Verkehrstote und motorisierte Gewalt im Alltag zu gewöhnen. Hinter jedem Opfer stünden Familie, Freunde, Lebensgefährten und Kolleginnen. 

Auch der ADFC hält daher an der "Vision Zero" fest: Demnach soll es möglichst überhaupt keine  Verkehrsunfälle mit schweren Personenschäden oder Todesfolgen mehr geben. Dass Menschen beim Fahren Fehler machen, wird dabei nicht bestritten. Allerdings sieht der Verband noch sehr viel Spielraum, um Straßen sicherer zu machen, angefangen bei einem konsequenten Ausbau der Radwegenetze. 

"Nach wie vor gilt: Jede und jeder Getötete und Schwerverletzte ist eine und einer zu viel", erklärte auch Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) mit Blick auf die Unfallstatistik 2023 für den Südwesten (369 Tote, 19 mehr als 2022). "Bei Verkehrsunfällen sterben die meisten Menschen im oder durch ein Auto", betonte er und plädierte für mehr Geschwindigkeitsbegrenzungen sowie eine sichere Fahrradinfrastruktur. Ein Wermutstropfen: Auch in Baden-Württemberg ist der Fortschritt eine Schnecke und manch ein Radschnellweg ist seit über acht Jahren in Planung, aber noch nicht im Bau.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


10 Kommentare verfügbar

  • Micha K.
    vor 2 Tagen
    Antworten
    Sehr geehrte Radfahrer,
    nehmen Sie doch einfach mal zur Kentniss, dass es nicht möglich ist, die Gesetze der Physik ausser Kraft zu setzen. Diesen ist völlig gleich ob das Ereignis Absicht ist oder ein Unfall! Diesen sind auch all die Spekulationen um "sichtbar" oder "nicht sichtbar" völlig gleich.…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!