Das Elend der Welt
Die 1940 geborene Mary Ellen Mark wollte wirklich wissen, wie es den Menschen erging, die sie im Auftrag von Magazinen wie "Life" und vielen anderen – über 100 führt eine ihr gewidmete Website auf – oder auf eigene Initiative aufnahm. Deshalb hielt sie längerfristig mit den Porträtierten Kontakt. Mehr als 30 Jahre im Fall von Erin Blackwell, die sie 1983 als dreizehnjährige Kinderprostituierte Tiny in Seattle im Halloween-Kostüm porträtierte: magere Arme, ein Netzschleier über der Nase, ein entschlossener, vielleicht auch verhärmter Mund, aber ein klarer, selbstbewusster Blick in die Kamera. Für das Magazin "Life" sollte sie eine Reportage über das damals – im Amerika Ronald Reagans – neue Phänomen der Straßenkinder anfertigen. In Seattle gab es so etwas angeblich nicht. Doch sie fragte sich durch und fand schließlich in der Pike Street um die 50 Kinder und Jugendliche, darunter Tiny. Marks Mann, der Dokumentarfilmer Martin Bell, drehte über Tiny den Film "Streetwise". Sie selbst kehrte immer wieder zu Tiny zurück, fotografierte sie schwanger, ihre zehn Kinder, die nach und nach erwachsen wurden und selbst Kinder bekamen, und widmete ihr 2015 – kurz vor Marks Tod – ihr letztes Buch.
Mark schreckte vor nichts zurück. Sie fuhr in die Appalachian Mountains zu den "Hillbillies", den Hinterwäldlern, und zu den französischstämmigen Acadians nach Louisiana, fotografierte wohlhabende Seniorinnen bei der Wassergymnastik in Florida und sogar den Ku-Klux-Klan in Tennessee, dessen Anhängerinnen auf einem vereinzelten Bild in der dritten Etage der Ausstellung, ohne Männer, vielleicht etwas zu harmlos erscheinen. Sie nahm wiederholt Heroinsüchtige und psychisch Kranke in den Blick, am spektakulärsten in der Langzeitreportage "Ward 81": Als Setfotografin hatte sie 1975 die Arbeiten zu Miloš Formans Film "Einer flog über das Kuckucksnest" dokumentiert, der im Oregon State Mental Hospital gedreht wurde. Die Station 81 war eine geschlossene Abteilung für Frauen, die eine Gefahr für andere darstellten. Mark erhielt die Erlaubnis, sich dort einzuquartieren, und lebte sechs Wochen lang mit den Internierten zusammen.
Nicht nur in den USA, in vielen Ländern war sie unterwegs: unter anderem in Indien, wo sie bereits 1968 in Bombay (heute Mumbai) auf die Prostituierten der Falkland Road aufmerksam wurde. Zehn Jahre später beauftragte das Magazin "Geo" sie mit einer Reportage. Während sie sonst fast immer in Schwarz-Weiß arbeitete, folgte sie hier dem Wunsch der Dargestellten nach Farbe. "Geo" befand freilich, ihre Aufnahmen seien für das amerikanische Publikum zu verstörend. Daher wurden sie 1981 in Deutschland im "Stern" veröffentlicht. In der Ausstellung liegen Exemplare der Zeitschrift aufgeschlagen in einer Vitrine. So ist an einer Stelle auch dokumentiert, wie die Fotos verwendet wurden, und die Farbbilder unterbrechen nicht das Schwarz-Weiß an den Wänden.
Kleine Menschen
In Indien hatte Mary Ellen Mark die dortige Zirkuskultur kennengelernt, vielleicht die älteste der Welt. Viele Jahre später erhielt sie durch ein Stipendium Gelegenheit, sich dem Thema näher zuzuwenden. Ähnlich wie heute Johanna-Maria Fritz, deren Zirkusbilder aus islamischen Ländern im vergangenen Jahr im Stadthaus Ulm zu sehen waren, interessierte sie sich mehr für die Menschen als für waghalsige Akrobatiknummern. Effektvolle Bilder lieferten Dompteure und Dompteusen von Wildtieren, die heute in Indien im Zirkus verboten sind. Sehr jung waren einige der Porträtierten. Damit leitet die Ausstellung, die die Kunsthistorikerin Rita Täuber für die Kunsthalle Vogelmann eingerichtet hat, über zu einem zentralen Aspekt der Arbeit der Fotografin: Kinder bezeichnete Mary Ellen Mark lieber als "kleine Menschen". 1965 mit einem Reisestipendium in der Türkei, war sie der kleinen Emine begegnet. Das Porträt des vielleicht achtjährigen Mädchens betrachtete die Fotografin als ihr erstes wichtiges Bild, als Wendepunkt ihrer Karriere.
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