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Galerie AK2, Stuttgart

Unter der Brezel

Galerie AK2, Stuttgart: Unter der Brezel
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 Fotos: Fabrice Weichelt, Andreas Körner, bildhübsche fotografie 

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Datum:

Seit zehn Jahren gibt es die Galerie AK2: einer der originellsten Orte aktueller Kunst quer durch alle Disziplinen. Zum Geburtstag ein Rückblick.

Ganz plötzlich brauchte Andreas Körner vor zehn Jahren ein neues Atelier. Das Haus im Hospitalviertel, der fast komplett kriegszerstörten historischen Stuttgarter Vorstadt, in dem der Fotograf arbeitete und zuletzt auch einen Ausstellungsraum, die Galerie AK1, angemietet hatte, entpuppte sich als altes Weinbauernhaus aus dem 17. Jahrhundert. Es musste weg, und zwar schnell, bevor die Denkmalbehörden oder die Stadt womöglich noch auf die Idee kämen, der Bau müsse erhalten bleiben. Das Risiko, dann auf die höhere Rendite aus einem Neubau verzichten zu müssen, wollte der Besitzer nicht eingehen.

Körner fand schnell etwas Neues: eine ehemalige Bäckerei an der Lorenzstaffel, knapp oberhalb der Stuttgarter Altstadt. Für seine Zwecke nur etwas zu groß. Also fragte er Winfried Stürzl, Kunsthistoriker, Kurator und Mitbegründer des temporären Kunstraums "Tresor – Raum für flüchtige Kunst", den er ohnehin gerade für eine Ausstellung hatte gewinnen wollen. Stürzl war schnell überzeugt. Er wollte nur einen Dritten mit ins Boot holen, da man sich zu zweit leicht in Routinen festfahre. Sie fragten Jan Löchte, einen Künstler, der bereits im AK1 ausgestellt hatte und zudem am Projektraum "White Heat" beteiligt war.

Mit dem Umbau der ehemaligen Bäckerei beauftragten sie das Architekturbüro Interior Park von Tina Kammer und Andrea Herold. Was die beiden aus den Räumen gemacht haben, entspricht exakt dem, was die Architektenverbände heute fordern: nicht alles raus und alles neu, sondern weiter nutzen und vorhandene Materialien als wertvolle Rohstoffe betrachten. Das alte Café bewahrt viel von seiner originalen Atmosphäre. Nun finden hier Lesungen, Musikveranstaltungen und Ausstellungen statt. Der frühere Verkaufsraum präsentiert sich offen zur Außenwelt. Eine Sitzbank am Fenster ist mit Zöpfen bezogen, die aus kilometerlangen Streifen aus Backpapier geflochten sind. In der Bäckerei wurden darauf die frisch aus dem Ofen gezogenen Brote abgelegt. Nun gibt es schön warm und ist erstaunlich haltbar.

Relikte der vergangenen zehn Jahre

Zur Jubiläumsausstellung haben Körner und Kollegen hervorgeholt, was von den Ausstellungen der letzten zehn Jahre übriggeblieben ist. Da für diejenigen, die diese Ausstellungen nicht gesehen haben, manches rätselhaft bleiben muss, stellt Kontext diese Relikte den dazugehörigen ursprünglichen Ausstellungsansichten gegenüber.

Da wäre zum Beispiel die Carrera-Bahn. Das Berliner Künstlerkollektiv FMSW um Marcel Mieth, der im AK2-Team bald an die Stelle von Jan Löchte getreten ist, verwandelte den gesamten Raum in eine aberwitzige, bis unter die Decke reichende Autorennbahn-Skulptur.

Vor der Schaufensterscheibe hängt eine Zeichnung, die in ihrer komplexen Exaktheit auf eine streng mathematische Programmierung hinzuweisen schien. Sie ist tatsächlich von einer mechanischen Apparatur hergestellt, aus dem "Maschinenraum" vom Künstler Robert Balke:

Und der rote Viewmaster – so nennt sich das kleine Spielzeug links im Bild, das aussieht wie ein Fernglas, um den Außenraum in den Blick zu nehmen. In Wirklichkeit hergestellt, um stereoskopische Dias zu betrachten, also mit einem 3D-Effekt. Hier verweist das Gerät auf eine gleichnamige Ausstellung von Studierenden der Universität Stuttgart, bei der bunte, perspektivische Markierungen auf den Scheiben der Galerie angebracht waren, die sich durch entsprechende Positionierung mit den Häuserkanten und Fenstern der umliegenden Gebäude in Übereinstimmung bringen ließen:

Von Francisco Wiborg Bamford ist ein Bild-Objekt übrig geblieben. Der Künstler arbeitet mit gefundenen Materialien, zwischen abstrakt und figürlich, zwischen zweidimensionalem Gemälde und dreidimensionaler Skulptur. Nicht geblieben ist dagegen sein Deckengemälde im ehemaligen Café.

Dort im Café fand 2017 vor einem kleinen Publikum ein Konzert des Stuttgarter Kollektivs für aktuelle Musik (SKAM) statt. Doch auch diejenigen, die nicht hineinpassten oder gar nicht unbedingt so intensiv zuhören wollten, wurden bedient. Während die abstrakten Klänge der Neuen Musik aus dem Lautsprecher rieselten, schwenkten draußen vor der Galerie Performer:innen große Fächer. Worte wurden auf den Boden gebeamt, die nun in der Jubiläumsausstellung den Weg zum Klo markierten: Irrlicht; Lustbarkeit; vergeistigt; Finsternis. "L'heure bleue" nannte sich diese Veranstaltung: "Ins Dämmerlicht mit allen Sinnen."

Auffällig vor der Galerie steht hier ein riesiger, aufblasbarer goldener Löwe auf rotem Sockel, wie zur Deko eines China-Restaurants. Der Titel der Ausstellung: "Der Marco-Polo-Komplex. Ein künstlerisch-kulinarisches Experiment". Der in Darmstadt lehrende Designtheoretiker Justus Theinert, die Stuttgarter Textildesignerin Heike Erath und der zeitweise in Beijing lebende Künstler Frederik Foert begaben sich auf eine Suche nach den Gemeinsamkeiten zwischen Mie-Nudeln und Spaghetti.

Justus Theinert saß mit seinem eineiigen Zwillingsbruder, dem Lichtkünstler Kurt Laurenz Theinert, im Schaufenster der Galerie und spielte ein Nudel-Memory. Geblieben sind von der Aktion auch noch einige Nudel-Objekte.

Kunst auf der Scheibe

Im März 2020 hieß es für die Galerie wie für alle anderen Kultureinrichtungen: Rien ne va plus, nichts geht mehr. Nichts? Nur weil die Galerie nicht mehr betreten werden durfte? Wer gedacht haben sollte, Körner, Stürzl und Mieth würden die Hände in den Schoß legen, sah sich getäuscht. Wichtiger, vielleicht wichtigster Bestandteil der Galerie ist das Schaufenster, einschließlich einer kleinen Terrasse – an einer Ecke, wo jede:r vorbeikommt, der oder die vom Wohngebiet um die Alexanderstraße zu Fuß in die Stadt will. Fotos und Videoaufnahmen von Ausstellungen der vergangenen Jahre, von innen an die matt abgehängten Scheiben projiziert, erreichten nun auch ein Laufpublikum. Und zwar rund um die Uhr, während sonst, da alles ehrenamtlich stattfindet, nur zu den Eröffnungen und auf Anfrage geöffnet ist.

Während sich in der Corona-Zeit weitere an die Scheiben gebeamte Ausstellungen anschlossen, wurde diese Projektion vergangener Ausstellungen in der Jubiläumsausstellung erneut an eine Leinwand projiziert.

Die Performance von Bildhauer und Ausnahmekoch Mario Ohno, bekannt auch als Romanfigur aus Wolfgang Schorlaus Dengler-Krimis, vor einem Jahr hätte eigentlich bereits 2021 stattfinden sollen: zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys. Ohno ist ein großer Anhänger von Beuys. "Festum Beuys nobiscum" nannte er seine Aktion, so ungefähr Beuys-sei-mit-uns-Fest. Wie der Künstler einst im Schaufenster der Düsseldorfer Galerie Schmela dem toten Hasen die Kunst erklärt hatte, so performte auch Ohno im Schaufenster. Die Gäste konnten von draußen zuschauen.

Am kommenden Freitag, 24. November folgt nun der zweite Akt. Ein langer Tisch steht diagonal im Raum, den Ohno zu einem sich wandelnden Bild machen will. Ein "nächtliches 'Mahn-Mahl' bei Lauchsuppe und Wein für ein neues Miteinander", heißt es in der Ankündigung, "und ein kulinarisches Sinnbild für eine durch ästhetische Prozesse stimulierte Kommunikation". Wer sich das noch nicht ganz vorstellen kann: am besten vorbeischauen. Es beginnt um 19.30 Uhr und geht bis 22 Uhr.

Seit dem letzten Doppelhaushalt erhalten Körner, Stürzl und Mieth eine dauerhafte Förderung der Stadt Stuttgart. Auch wenn das noch nicht reicht, um die Kosten zu decken: Sie sind damit ganz offiziell eine Kulturinstitution.


Zur Kulturinstitution Galerie AK2 bitte hier entlang. Mehr zur Performance am 24. November hier.


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