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Guerilla-Kunst und Workshop

Der Mut-Muskel

Guerilla-Kunst und Workshop: Der Mut-Muskel
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Mit dem Vietnamkrieg begann vor mehr als 50 Jahren die radikale Aktionskunst. Das beleuchtet der Kunstverein Neuhausen mit einer Ausstellung. Vor der Eröffnung zeigen die Radikalen Töchter, wie sich Wut in Mut verwandeln lässt.

Sieben Personen stehen auf dem Schwarzweißfoto vor dem riesigen Gemälde "Guernica" von Pablo Picasso im Museum of Modern Art (MoMA) in New York: Künstler:innen der Guerilla Art Action Group (GAAG), die mehrfach ein Poster hochhalten. Picasso hatte mit seinem Werk 1937 gegen die Zerstörung des baskischen Orts durch die Bomben der deutschen "Legion Condor" protestiert. Die hochgehaltenen Plakate zeigen ein Bild vom Massaker von My Lai im Vietnamkrieg aus der Zeitschrift "Newsweek". Darüber steht: "Q: And babies?" Und unten: "A: And babies.": Frage und Antwort aus einem Radiointerview mit einem Soldaten.

Das Schwarzweißfoto ist im Kunstverein Neuhausen an die Wand gegenüber dem Eingang tapeziert. Das Poster, mit dem die Künstler:innen der GAAG Anfang 1970 ins MoMA gezogen waren, hängt gleich daneben. Sie hatten das Museum um Hilfe gebeten, waren jedoch auf Ablehnung gestoßen. Sie druckten das Poster trotzdem in einer Auflage von 50.000 Stück mit Unterstützung vom "Newsweek"-Fotografen und einer Druckerei.

Die GAAG steht am Beginn einer radikalen, politischen Aktionskunst. Gründungsmitglied Jon Hendricks, der auch an dem Plakat mitgewirkt hat, hat auch die derzeitige Ausstellung in Neuhausen mitgestaltet. Der Kunstverein stellt dabei den Künstler-Aktivist:innen von damals die Radikalen Töchter gegenüber: eine heutige Gruppe, die an zwei Tagen ein "Mut-Muskel-Training" in der Neuhausener Ausstellung angeboten hat.

Eine Flagge muss den Menschen gehören

Hendricks hat am Vortag der Ausstellungseröffnung seinen 84. Geburtstag gefeiert: ein freundlicher, zurückhaltender, bescheidener alter Mann. "Ich war Kriegsdienstverweigerer", erklärt er. Er stammt aus einer kunstinteressierten Familie und kuratiert die Fluxus-Sammlung im MoMA von Gilbert und Lila Silverman sowie die Ausstellungen von Yoko Ono, die er seit 1965 kennt.

Ende der 1950er-Jahre war Hendricks in Paris. Er besuchte den spanisch-katalanischen Maler Joan Mirò auf Mallorca. Als er einige Jahre später nach New York zurückkehrte, arbeitete er für die Judson Memorial Church: eine Baptistenkirche, die den Avantgarde-Künstler:innen der damaligen Zeit ein Forum bot. Hendricks leitete die Galerie in den Kellerräumen, wo im November 1970 die "People's Flag Show" stattfand. Die GAAG hatte Künstler:innen per Flugblatt aufgerufen, ihre eigene Version der amerikanischen Flagge zu entwerfen.

"Eine Flagge, die nicht den Menschen gehört", heißt es auf dem in Neuhausen ausgestellten Plakat der schwarzen Künstlerin Faith Ringgold, "sollte verbrannt und vergessen werden." Tatsächlich verbrannten Hendricks und GAAG-Mitbegründer Jean Toche zur Eröffnung in der "People's Flag Show" einen aus amerikanischen Flaggen zusammengenähten Sack mit Innereien und Knochen, anspielend auf die Verbrennungen durch Napalm im Vietnamkrieg. Der auf dem Boden liegende Teil blieb erhalten und ist nun in Neuhausen ausgestellt.

Teil der "People's Flag Show" waren auch drei Tänzerinnen und drei Tänzer, die sich nach einer Choreografie der amerikanischen Choreografin Yvonne Rainer durch die Galerie der Judson Memorial Church bewegten: nackt bis auf die wie einen Latz um den Hals gebundene Flagge. In Neuhausen sind die Filmaufnahmen davon zu sehen. "Sie haben zwei Tabus gebrochen", kommentiert Hendricks: "mit der Flagge und dem nackten Körper." In Bezug auf die Flagge galten seit dem Vietnamkrieg schärfere Gesetze.

Und so wurden Hendricks, Ringgold und Toche, die sogenannten "Judson 3" und Kurator:innen der "People's Flag Show", vier Tage nach der Eröffnung verhaftet und die Ausstellung geschlossen. James Moody, der Pfarrer der Judson Memorial Church mit schwarzer Augenklappe, reagiert in der Filmaufnahme empört: Eine Entweihung liege vor, wenn die Flagge, die für Freiheit und Bürgerrechte stehe, für Kriege in anderen Ländern missbraucht werde, erklärt er. Ob die Staatsanwaltschaft nichts Besseres zu tun habe, als Künstler:innen zu verfolgen, die mit friedlichen Mitteln dagegen Einspruch erheben.

Radikale Künstler:innen und künstlerischer Aktivismus

Die Aktionen der Guerilla-Aktionskünstler:innen zielten auf die Museen, weil dies ihre Welt war. Im MoMA veranstalteten sie ein "Blutbad". Sie schütteten eine rote Flüssigkeit auf den Boden, rissen sich einen Teil ihrer Kleider vom Leib und blieben scheinbar tot liegen. Sie suchten Aufmerksamkeit, um auf die Rüstungsgeschäfte ihres Hauptfeinds Nelson A. Rockefeller hinzuweisen. Rockefeller, damals Gouverneur von New York, war 1972 verantwortlich für die blutige Niederschlagung des Gefangenenaufstandes im Attica State Prison, an der sich die Proteste erneut entzündeten.

Die Künstler:innen engagierten sich für Gleichberechtigung und gegen Rassismus. Zu der Gruppe gehörten mindestens ebenso viele Frauen wie Männer, auch schwarze Künstler:innen wie Ringgold.

Doch Rassismus und Kriege gibt es immer noch. Ist es nicht frustrierend zu sehen, dass sich nach fünfzig Jahren so wenig geändert hat? Hendricks seufzt. "Wichtig ist, Stellung zu beziehen", meint er.

Und die Radikalen Töchter? Sie sind, anders als die GAAG, nicht Künstler:innen, die sich radikalisiert haben, sondern eher Aktivist:innen, die mit künstlerischen, vorwiegend theatralen und medialen Mitteln die Welt verändern wollen. "Töchter" heißt nicht, dass nur Frauen mitmachen können, erklärt Johanna Koetter im Workshop "Mut-Muskel-Training", den sie gemeinsam mit Philippa Jochim leitet: "Wir verstehen das eher als generisches Femininum."

Empörung und Wut für Veränderung

Etwas mehr als zehn Personen nahmen am Workshop teil, der an zwei Tagen vor der Eröffnung der Neuhausener Ausstellung stattgefunden hat. Unter anderem eine Schülerin aus der benachbarten Schule, ihre Freundin, mehrere Künstler:innen und ein Friedensaktivist im Rentenalter. "Wir sprechen uns mit 'du' an", lautet eine der Regeln, die Johanna und Philippa vorab erklären. Philippa hat Kunst studiert, Johanna Global Studies und Design Thinking. Der Workshop soll kein Safe Space sein, sagen sie, sondern ein "Brave Space". Es geht nicht darum, Konflikte zu vermeiden, sondern im Konfliktfall Stellung zu beziehen: den "Mut-Muskel" zu trainieren.

Die Radikalen Töchter sind ein Verein. Gefördert unter anderem von der Bundeszentrale für politische Bildung, arbeiten sie in Schulen in den vom Rechtsradikalismus besonders betroffenen Ländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Sie wollen den Schüler:innen zeigen, dass es sich lohnt, sich für etwas einzusetzen, dass man etwas erreichen kann. Wie? Das möchten Johanna und Philippa in ihrem Workshop zeigen.

Es beginnt mit der Wut. Wut, Empörung kann Veränderungen in Gang setzen. Nach einer Frage-und-Antwort-Runde, um die Gedanken in Bewegung zu bringen, sollen alle der Reihe nach körperlich ihrer Wut Ausdruck verleihen, eine:r immer stärker, deutlicher, intensiver als der oder die andere.

Was sie unter Aktionskunst verstehen, erklären Johanna und Philippa anhand einer Aktion des Zentrums für politische Schönheit (ZPS). Weil der Thüringer Landtagsabgeordnete Björn Höcke (AfD) das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin als nationale Schande bezeichnet hatte, hat das ZPS auf dem Nachbargrundstück seines privaten Wohnsitzes in Thüringen eine Replik aufgestellt.

Aktionen wie diese wollen gut vorbereitet sein. Der Grundstücksbesitzer befürwortete allerdings die Aktion, ein Spendenaufruf sicherte nicht nur die Finanzierung, sondern sorgte auch für Aufmerksamkeit. Mit der Kampagne brachten die Aktionskünstler:innen CDU-Politiker:innen im Thüringer Landtag, die mit der AfD paktieren, in Erklärungsnöte. Das mediale Echo war groß und überwiegend positiv. Höcke schäumte.

Anhand weiterer Beispiele erklären Johanna und Philippa ihre elf Prinzipien. Dazu gehört eine sorgfältige Recherche der Faktenlage, die Verantwortlichen zu benennen, sich gegebenenfalls juristisch abzusichern, und die Wahl einer geeigneten realen oder medialen Bühne, um so viel Aufmerksamkeit zu erregen wie möglich. Das alles war bei der Guerilla Art Action Group auch nicht anders.

Wenn viele gemeinsam träumen

Damit es nicht nur beim Vortrag bleibt, fordern Johanna und Philippa anschließend die Teilnehmer:innen auf, Themen, die sie aufregen, auf Zettel zu schreiben. Was würden sie gern ändern? Nicht gerade den Klimawandel, es sollte irgendwie greifbar bleiben. Schließlich einigt sich die Gruppe auf den Vorschlag, den Charlottenplatz in Stuttgart in Charlottenkreuzung umzubenennen.

Dann kommt die "Ja-aber-Runde". Es geht darum, Einwände zu erheben: Stuttgart ändert sich nie. Wo soll der Verkehr hin? Die Polizei wird einschreiten. Doch dann folgt darauf die "Ja-und-Runde". Eine:r soll wieder den anderen überbieten. Think big! lautet die Devise. Warum nur die Straßenschilder ändern? Den Platz besetzen! Den Verkehr bereits an der Stadtgrenze umleiten. Eine Ausstellung soll zeigen, wie andere Städte das Problem lösen. Rockkonzerte finden auf der Kreuzung statt. So viele Menschen kommen, dass auch Gemeinderät:innen, an die zuvor eine Broschüre verteilt wurde, sich zeigen und umzudenken beginnen. Nur ein Traum? "You may say I'm a dreamer", sang einst John Lennon. "But I'm not the only one."


Die Ausstellung "The Guerrilla Art Action Group – Revisited" im Kunstverein Neuhausen, Rupert-Mayer-Straße 68 B, 73765 Neuhausen/Fildern, läuft bis 19. November. Geöffnet samstags und sonntags von 14 bis 18 Uhr.


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