KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Freud und die Kunst

Hundert Jahre unbewusst

Freud und die Kunst: Hundert Jahre unbewusst
|

Datum:

Die Kunsthalle Tübingen widmet sich Sigmund Freud. Die Ausstellung "Innenwelten" zeigt seinen Einfluss auf die Kunst – und seine Aktualität. Neben Ikonen aus der Frühzeit des Surrealismus beweisen das viele Werke zeitgenössischer Künstler:innen.

Da stehen sie, fast könnte man sie für Besucher der Tübinger Kunsthalle halten, wären sie nicht viel zu klein geraten. Sie tragen Straßenkleidung, ordentlich, sie sind auch gut frisiert. Vielleicht sind ein oder zwei Frauen unter ihnen, das lässt sich kaum sagen; auf jedem Fall sind Männer in der Überzahl. Ihr Blick und ihre Haltung sind seltsam starr und offensiv; sie bewegen ruckartig ihre Arme, Beine, ein wenig nur. Und ein seltsames Geräusch liegt in der Luft: monoton, mechanisch, schabend.

Die Figuren sind aus Holz, in Stoffe gekleidet und bemalt, sie hängen wie Marionetten an langen, an der Decke befestigten Drähten. Markus Schinwald, ein Künstler aus Österreich, der in Karlsruhe lehrt, hat sie geschaffen und "Misfits" genannt: Menschen ohne Ort, ausgestoßen aus der Gesellschaft. Oder sind dies die "Doppelgänger", die die Literatur von Poe und Hoffmann bis zu Dostojewski, Oscar Wilde, José Saramago bevölkern? Seelenlose Automaten, Roboter, Opfer der Körperfresser, die seit den 1950er Jahren im Kino umgehen?

Markus Schinwalds Werk von 2013 befindet sich im letzten Raum der Ausstellung, die nun in der Kunsthalle Tübingen eröffnete. "Innenwelten – Sigmund Freud und die Kunst" – so heißt die Schau, die dem Einfluss des Begründers der Psychoanalyse nachspürt. Sie ist, so informiert Nicole Fritz, die Leiterin der Kunsthalle, sowohl nach thematischen als auch nach chronologischen Gesichtspunkten aufgebaut. Der letzte dieser Räume bezieht sich auf die Gegenwart und jüngere Vergangenheit, etwa seit den 1990er Jahren. Sein thematischer Schwerpunkt: das Unheimliche.

Sigmund Freud veröffentlichte 1919 einen Text mit diesem Titel. Er gilt als grundlegend für seine Auffassung des Unbewussten. Das Unheimliche, als etwas zugleich Fremdes und Vertrautes, führte Freud zu seiner Vorstellung des Unbewussten. Sein "Strukturmodell der menschlichen Psyche" stellte er schließlich dar in "Das Ich und das Es" erschienen 1923, als Ergebnis von Forschungen, die er in den 1890er Jahren begann und die ihren ersten Höhepunkt in der Veröffentlichung von "Die Traumdeutung" (1900) erreichten.

Die Psychoanalyse hat das Denken verändert

Hundert Jahre später mag man über Sigmund Freud denken, was man will – viele Aspekte seiner Arbeit können überholt anmuten, wurden in andere Richtungen weiterentwickelt, die Psychoanalyse hat sich in unterschiedliche Strömungen aufgegliedert und teils von ihrem Begründer emanzipiert. Freud selbst erscheint als ein weißer alter Mann, ganz in den patriarchalen Strukturen seiner Zeit verhaftet; dem Ödipus hat längst ein Anti-Ödipus geantwortet. Wie sehr allerdings die Psychoanalyse das Denken verändert hat, die Art und Weise, wie der Mensch sich selbst sieht, das lässt sich nicht leugnen. Auch nicht, wie groß ihr Einfluss auf die Kunst war, wie groß die Faszination ist, die sie bis heute auf Künstler:innen ausübt.

Die Tübinger Kunsthalle bietet überschaubaren Raum, musste ihre Exponate sorgsam wählen, was der Ausstellung sehr zugute kommt. Sie zeigt  50 Positionen internationaler Künstler:innen von den 1920ern bis heute, darunter Werke des Expressionismus, Surrealismus, des Wiener Aktionismus, der Konzeptkunst; man trifft auf große Namen wie Salvador Dalí, Max Ernst, Giorgio de Chirico, Käthe Kollwitz, Oskar Kokoschka, Meret Oppenheim, Joseph Beuys oder Cindy Sherman, aber auch auf viele weniger breit bekannte Künstler:innen.

Nicole Fritz kuratierte die Ausstellung gemeinsam mit Monika Pessler, der Direktorin des Sigmund-Freud-Museums in Wien. Das Museum befindet sich in der Berggasse 19, dem Haus, in dem Freud lebte und arbeitete, ehe er 1938 vor den Nazis nach London floh. Freuds Portrait, sein unverwechselbarer Bart, die ikonische Couch – diese Motive wurden von einigen Künstler:innen aufgegriffen, nicht ohne Ironie, gebrochen oder verwandelt: Die Österreicherin Birgit Jürgenssen fotografierte 1975 ihre eigene Couch samt Zimmerpalme und vielen Bildern, einigen sicher von Familienangehörigen. Thomas Zipp aus Berlin schuf 2010 eine Freud-Büste mit seltsamen Augen, der Wiener Franz West 1989 eine Liege aus Metall, die, höchst unbequem, fast wie eine Schlachtbank anmutet. Und der New Yorker Robert Longo fertigte großformatige Kohlezeichnungen an nach Fotografien, die die Tür zu Sigmund Freuds Appartement zeigen: schwarzweiß, sehr dunkel, mit Gittern bewehrt und Spion. Da wird die Geburtsstätte der Psychoanalyse selbst unheimlich.

Aus einer monumentalen Brust schießt ein Milchstrahl

Freuds Theorien entzündeten die Fantasie der Künstler:innen, die Kunst selbst ließ den Analytiker jedoch vorwiegend kalt. Die Tübinger Ausstellung stelle auch einen Versuch dar, das Bildnerische in diesem Zusammenhang aufzuwerten, sagt Nicole Fritz: "Die Psychoanalyse ist ja eher sprachbasiert." Lediglich Salvador Dalí gelang es, Sigmund Freud für eines seiner Werke zu begeistern: für "La Métamorphose de Narcisse", das der Maler dem Analytiker im Londoner Exil präsentierte – in Tübingen ist eine Vorstufe in Tusche zu sehen. Im selben, zentralen Ausstellungsraum: Werke von Max Ernst, René Magritte, André Masson, Giorgio De Chirico, aber auch ein Fernsehgerät, auf dem ein Schwarzweißfilm läuft: "Meshes of the Afternoon" entstand 1943, gilt heute als Meilenstein des US-amerikanischen Avantgardefilms. Maya Deren filmte assoziative Traumsequenzen, um ihre Ängste und Depressionen aufzuarbeiten.

Dass ihr Film in Tübingen zu sehen ist, nicht die weit bekannteren surrealistischen Filme von Luis Buñuel und Dalí ("Ein andalusischer Hund"), verdeutlicht, dass sich auch die feministische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse als Thema durch die Ausstellung zieht. Oft diskret, sehr explosiv aber bei Raphaela Vogel: Sie hat in der Kunsthalle ein anatomisches Brustmodell von fast monumentaler Größe aufgestellt, eine aufgeschnittene, medizinisch zergliederte weibliche Brust, aus der ein Milchstrahl aus Polyurethan schießt und sich zum Pferd formt, das voran stürmt als ein anderer Weltgeist. "Uterusland" ist das Gebilde betitelt, ebenso wie das Video, zu sehen in einem sonst verschlossenen Technikraum der Kunsthalle: In ihm hat Raphaela Vogel ihre eigene Geburt im Schwimmbad nachgestellt.

Filmsequenzen führen auch in einem aktuellen Werk des Wieners Kay Walkowiak zurück in ein Haus der Kindheit des Künstlers, gebaut vom Großvater, einem modernistischen Architekten: ein Zufluchtsort der Erinnerung, zugleich bewohnt vom Schrecken, den das Kind erlebte, als es beim Anblick einer Schmetterlingssammlung sich vorstellte, diese Insekten lebten noch: "Der Gedanke an solch enorme Schmerzen war mir unerträglich." Eine andere Filmarbeit, von der in Israel aufgewachsenen Esther Shalev-Gerz, zeigt Überlebende des Holocaust – nicht während sie berichten, sondern in jenen Augenblicken, in denen sie schweigen, um Worte ringen.

Wandfüllende Collage, von einem Traum inspiriert

Die US-Amerikanerin Cindy Sherman schuf eine Puppe, deren Brust sich öffnet und das verkehrte Gesicht einer weiteren Puppe preisgibt; Rachel Lachowicz aus Los Angeles hat feuerroten Lippenstift eingeschmolzen und aus ihm lauter kopflose kleine Männer gegossen, die gegen eine Wand anrennen. Nadja Schöllhammer aus Berlin reißt und schneidet Papier, Tuschezeichnungen und Ausschnitte aus Magazinen, um sie zu reliefhaften, chaotisch anmutenden Bildwelten zu verbinden, aus denen wie im Traum Bilder und Gestalten hervortreten. Die ebenfalls in Berlin lebende Barbara Breitenfellner hat sich schließlich in einer ganz aktuellen Arbeit durch einen Traum, den sie nach einem Besuch der Tübinger Kunsthalle hatte, zu einer großformatigen Collage inspirieren lassen, die dort nun eine ganze Wand bedeckt.

Unheimlich fühlt der Mensch sich selbst in seiner Haut, seitdem Sigmund Freud ihm erklärte, dass er kaum ein freies Wesen ist, sondern von Trieben und ihrer Verdrängung, von einem Es und einem Über-Ich beherrscht wird. Freuds Begriffe sind tief in die Kultur eingedrungen. Auch im 21. Jahrhundert denkt man sie immer mit. Das sollte so bleiben: Der Mensch hat mehr als je zuvor Grund, sich selbst unheimlich zu sein.

Die Ausstellung "Innenwelten" reißt vieles an, das seine Fortsetzung findet in der Kunst oder im Leben. In ihrem letzten Raum sind neben den "Misfits" von Markus Schinwald auch Bilder des US-amerikanischen Fotografen Gregory Crewdson zu sehen, großformatige Pigmentdrucke von Fotografien. Sie zeigen Menschen, die regungslos verlassen in der dunklen und trostlosen Landschaft amerikanischer Kleinstädte stehen, oder eine Familie zu Tisch: der Vater, der Sohn sehr entspannt, die Tochter sehr in sich gekehrt – da erscheint in der Tür die Mutter, nackt, gebückt, mit schmutzigen Füßen. Und die französisch-amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois druckte den Schriftzug "The return of the repressed" ­– "Die Wiederkehr des Verdrängten" – schlicht in roter Farbe auf ein Stück Stoff – ein Handtuch vielleicht, ein Putzlappen, der den Staub fortwischt, immer wieder.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!