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Die Bilanz von OB Kuhn

Das einsame Rössle

Die Bilanz von OB Kuhn: Das einsame Rössle
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Woran wird man sich nach acht Jahren Fritz Kuhn erinnern? Fernsehturm, Feinstaubalarm, Mooswände? Das wäre ungerecht, weil der grüne Oberbürgermeister mehr wollte als er konnte. Und das lag nicht nur an ihm. Auszüge aus seiner Amtszeit in Wort und Bild.

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Von oben herab betrachtet, mag der Blick in den Großen Ratssaal ein erhabener sein. Von unten nach oben mag er beeindruckt sein von den vielen Würdenträgern, die dort sitzen. Oberbürgermeister, Bürgermeister, Amtsleiter. Aber was ist, wenn dort nur einer sitzt? Auch wenn's der Oberbürgermeister ist? Er sieht ganz klein aus, einsam und allein. Fritz Kuhn zieht Bilanz auf neun Seiten. "Acht Jahre für Stuttgart" steht über seinem Redetext, den er den JournalistInnen präsentiert. Ganz nüchtern, einem Buchhalter ähnlich.

Sein Problem ist, dass die Wahrnehmungen auseinander gehen. Vor allem in den letzten Monaten hat sich der öffentliche Eindruck festgesetzt, dass der 65-Jährige unsichtbar geworden ist. Das war einerseits dem OB-Wahlkampf geschuldet, aus dem er sich herauszuhalten hatte, andererseits einem Begriff, der ihn nahezu handlungsunfähig gemacht hat. S-t-i-l-l-s-t-a-n-d. Plötzlich war überall die Rede vom Stillstand, bis in die grüne Partei hinein, wobei selten benannt wurde, was das denn sei. Die vielen Baustellen in der Stadt, die Parkplätze, die Autos, mal zu viel, mal zu wenig, irgendwie hatten die Menschen das Gefühl, dass nichts vorangeht. Außer der Pandemie. Und Kuhn hatte keine frohe Botschaft.

Fragt man sie, fällt ihnen als erstes der Fernsehturm ein. 2013 hat ihn Kuhn aus Brandschutzgründen geschlossen, 2016 wieder eröffnet, für ihn ein "extrem schöner Moment". Am Ende seiner Ausführungen wird Kuhn sagen, er habe einfach getan, was getan werden musste, "ohne nach Beliebtheitswerten zu schauen". Und jetzt habe Stuttgart den "sichersten Fernsehturm der Welt".

Ein typischer Kuhn. Bloß kein Bohei, nur nicht zuviel Gefühl, es könnte womöglich als Hurrikan zurück kommen und seine Philosophie, die Dinge vom Ende her zu denken, ins Wanken bringen. Bloß nicht die Kontrolle verlieren. Lieber kein Risiko, immer Habacht, niemandem trauen. Das attempto ("Ich wag's") seiner Tübinger Universität ist seine Sache nicht, viel mehr schätzt er das Kalkül des Durchsetzbaren, das eben oft als kleinster gemeinsamer Nenner endet, diktiert von herrschenden Interessen. Man könnte auch grüne Realpolitik dazu sagen.

Wohnen, Auto, Klima. Wo war der Schritt nach vorn?

Kuhn betont, er habe die Züge auf das "richtige Gleis" gesetzt, eine grüne Infrastruktur geschaffen, bis hin zu Bienenweiden auf dem Rathausdach. Mit dem Gleis hebt er nicht auf die Deutsche Bahn ab, der er beim Amtsantritt noch auf die Finger klopfen wollte, zur großen Freude der Bahnhofsgegner. Später reichte er ihr beide Hände. Kuhn meint die ganze Stadt, der er einen sehr deutlichen Kurswechsel bei Mobilität, Energiewende und Klimaschutz verordnet habe. Und zwar nachhaltig und unumkehrbar. Jedenfalls sei Stuttgart jetzt "keine reine Autostadt" mehr. Das sieht der ADAC wahrscheinlich auch so, der neue Stadtplaner Wieland Backes vielleicht nicht ganz so, und der linke OB-Kandidat Hannes Rockenbauch ganz anders. Fakt ist, dass Mooswände an und Feinstaubalarm-Tafeln über der Straße im Gedächtnis haften bleiben. Weniger die Tarifreform der VVS, die hinzukriegen unendlich schwierig war. Es heißt, Kuhn sei ein guter Verhandler, ein Schaffer, der sich auch in die kleinen Dinge hineingefuchst habe.

Er selbst sagt von sich, er sei kein Freund lauter Sprüche, der Trommel und sonstiger Marktschreierei, kein Verkäufer von Leuchtturmprojekten und Imagekampagnen. Das ist in Ordnung und wird einen positiven Erinnerungswert haben, wenn sein Nachfolger das 26. Straßenfest eröffnet haben wird, auf dem Weg zum leuchtenden Stern Stuttgart. Aber es ist auch aus der Zeit gefallen. Ausgerechnet der gelernte Linguist, der Lehrbeauftragte für sprachliche Kommunikation, kriegt nicht vermittelt, was ihm wichtig ist? Die Gesetze der Mediengesellschaft zu analysieren, gelingt dem Sprachwissenschaftler problemlos, aber keine Überschrift. Wenn Donald Trump die Böblinger und Vaihinger US-Kasernen räumen will, bedauert er den angedrohten Abzug und maßregelt die linken Stadträte, die bezahlbaren Wohnraum fordern. Das lockt nicht mal die "Landesschau". Abgesehen davon, dass man sich über eine solche Chance auch freuen könnte.

Manche glauben auch, es sei die fehlende Nähe zu den Menschen, die das Penetrieren der Botschaften verhindere. Die Unfähigkeit, ihnen das Gefühl zu geben, dass wir alle Käpsele sind, auch wenn es in Wirklichkeit nur einer ist. Gewiss, der Wasen war ihm sichtbar eine Qual, das Anzapfen eine Koordinationsübung, die man nicht bei Kieser lernte. Aber ein Menschenmöger oder Gute-Laune-Bär war auch Wolfgang Schuster, sein Vorgänger, nie. Der ungelenke Autist hat sich lieber im Rathaus verschanzt, wenn wieder einmal die renitente S-21-Bürgerschaft ums Eck gesprungen kam. Oder er hat im abgesperrten Alten Schloss den Seinen verkündet: "Wir lassen uns das Weindorf nicht vermiesen."

Das wäre Kuhn nicht passiert. Lieber sagt er gar nichts. Wie bei Peter Lenks Schwäbischem Laokoon, dem Denkmal einer grotesken Entgleisung. Fast ein Jahr war unklar, ob es einen Platz in der Stadt finden würde, weil deren Oberhaupt einfach geschwiegen hat. Heute ist es mit das meistbestaunte Kunstwerk in Stuttgart. Wer weiß, was ihm da alles durch den Kopf gegangen ist? Eine Pilgerstätte für Bahnhofsgegner, eine Erinnerung an frühere grüne Politik, die Bürgerbeteiligung durch Gehörtwerden versprochen hat? Stuttgart 21 auf immer und ewig? Das nervt.

Es könnte etwas anderes passiert sein: ein Realitätsschock im Rathaus. Gegen Daimler zu regieren, gegen die Baulöwen und die angeschlossenen Parteien, dürfte ihm, so er's je vor hatte, als Ding der Unmöglichkeit erschienen sein. Mit jedem Jahr mehr. Also hat er, nach eigenen Worten, "immer auch die Interessen der Autoindustrie beachtet". Das dürfte für viele Lobbyisten gegolten haben, sei's Haus und Grund, die Industrie- und Handelskammer, die Oper, SSB, LBBW, Flughafen, Messe und so weiter. Irgendeiner will immer irgendwas. Am besten alles. Dazu noch ein Gemeinderat mit volatilem Abstimmungsverhalten, was ganz schlecht ist, wenn man der Devise des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann folgt: Es entscheidet die Mehrheit, nicht die Wahrheit. Da wird der OB zum Knochenjob, den sich bezeichnenderweise keine grüne Größe antun wollte.

Eine erhellende Antwort auf all diese Fragen gibt es nicht. Menschen, die Kuhn kennen, so weit er das zulässt, sagen, er verlasse das Rathaus tief verletzt. Wegen der Debatte im Gemeinderat, ob ihm die Ehrenbürgerschaft verweigert werden soll, die bisher jedem Oberbürgermeister zugestanden wurde. Aber auch wegen der Parteifreunde, die ihn zur Hauptfigur in der Stillstandserzählung machen, weil einer ja schuld sein muss. Er sei zufrieden mit seiner Bilanz, sagt Kuhn am Schluss von der Bürgermeisterbank herab, er scheide nicht mit Gekränktheit und freue sich auf den 7. Januar 2021. Das ist das Ende seiner Amtszeit.


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4 Kommentare verfügbar

  • Leo Kottke
    am 10.12.2020
    Antworten
    Der schlechteste OB, den Stuttgart je hatte? Äh seit wann sind Sie denn auf der Welt? Schuster schon vergessen? Damals ging ja noch weniger in Sachen Rad.
    Bin übrigens kein Kuhnfan, aber so ein Quatsch...
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