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"Ich möchte ganz laut schreien"

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Leute wie Guido Lorenz sind nicht modern. Oder doch? Sie sind Moralisten im Kapitalismus. Die Kirche nennt sie Betriebsseelsorger und sorgt sich vor allem darum, dass sie die Betreiber stören. Das tun sie in der Tat. Zurecht und mit viel Herzblut.

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Selbstverständlich habe er das Lied mitgesungen, sagt Walter Rogg, er habe damit kein Problem. Schon die Frage erscheint ihm fehl am Platze. Warum sollte er stumm bleiben, schließlich geht es nur auf "zur Sonne, zur Freiheit, zum Lichte empor", wie es aus vielen beseelten Kehlen im Hospitalhof schallt. Andererseits muss jedoch bedacht werden, dass es sich hier um die Hymne der Arbeiterbewegung und der SPD handelt, welche ein Christdemokrat und Kapitalvertreter nicht zu seinem bevorzugten Liedgut zählt. Der oberste Wirtschaftsförderer der Region Stuttgart ist so einer. Aber Rogg, der 62-jährige Oberschwabe, bringt das zusammen, weil Freundschaften überparteilich sein können. Außerdem ist der Text per Flugblatt verteilt worden.

An diesem Abend wird sein Freund Guido Lorenz verabschiedet. Ausgewiesene Sozialdemokraten, so weit erkennbar, sind nicht da. Ein paar Gewerkschafter ja, viele Betriebsräte, Wandervögel, die mit ihm den Jakobsweg gegangen sind, Mitstreiter, die mit ihm die Zeitschrift "Antenne" gemacht haben, der Tübinger Ernst-Bloch-Chor, der aufmunternde Lieder ("Eine andere Welt ist möglich") vorträgt. Der smarte Stadtdekan von Stuttgart hat einen Vertreter geschickt.

Von Berufs wegen ist Lorenz katholischer Betriebsseelsorger, beschäftigt von der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die in elf baden-württembergischen Städten solche Stellen hat. Das sei wichtig, glaubt sein Chef, der Bischof, weil die Herausforderungen in der Arbeitswelt noch größer würden, die Schere zwischen "sozial Schwachen" und Menschen, "die immer wohlhabender werden", weiter auseinandergehe. Die Beobachtung ist gewiss richtig. Nur: was tun?

Lorenz, der Herz-Jesu-Sozialist

Lorenz will keine Betriebe umsorgen, sondern die Beschäftigten. Im Duktus der Basis-Theologen heißt das: Arbeiten mit den Arbeitern, der Gegner ist das Kapital. Wir sprechen auch mit den Reichen, kommen aber von den Armen. Da wird nicht gewackelt, da wird klar Position bezogen, für jene gekämpft, die am meisten unter Fremdbestimmung und Machtlosigkeit zu leiden haben.

37 Jahre lang hat Lorenz das gemacht, von unten her mit 20 Arbeitseinsätzen, mal als Putzmann, mal als Pfleger, mal als Zementsackträger, mal als Postbote und Schrottsammler. Dabei wollte er deutlich machen, dass man kleiner ist, wenn man den Kopf senkt, und größer der Mut, wenn man den Blick erhebt. Einprägsames Bild, nicht nur für Zementsackträger. Für ihn war es die "Teilnahme am Leben und Kampf der Arbeiterschaft". Er hat erlebt, was Papst Franziskus gemeint haben könnte, als er sagte, diese Wirtschaft "tötet jeden Tag, ganz alltäglich". Lorenz könnte man einen Herz-Jesu-Sozialisten nennen. Ein Absatz aus seiner Abschiedsrede:

"Im Einklang mit Papst Franziskus möchte ich ganz laut schreien: Stopp, Halt, Aufhören! Mit der Faust Dreinschlagen muss man da. Lasst uns gemeinsam neu nachdenken, wie das menschlich, ja auch ökologisch und wirtschaftlich zu gestalten ist".

Fehlt nur noch der Aufruf zum Klassenkampf. Wenn das der Bischof hört. Man wird Gebhard Fürst nicht zu nahe treten, mit der Annahme, dass er seine Betriebsseelsorge so nicht sieht. Er hat es lieber systemtreu, wie es die Amtskirche immer hatte, nahe an der Seite der Mächtigen. Wie immer sie hießen, Moser, Kasper oder Fürst, sie waren Bürgersöhne, die keinen Kontakt zur Arbeitswelt hatten. In seinem Verabschiedungsbrief an Lorenz lobt der Bischof die "Vermittlung" zwischen Kirche, Arbeitnehmern und Arbeitgebern, auf dass aus den Arbeitsorten Lebensorte würden, "an denen das Miteinander gelingt".

Am Bahnhof hilft auch Gottes Segen nicht weiter

Da hängt die Latte hoch, wenn allein der Glaube das Sprungbrett ist. Womöglich könnte es nur bei Stuttgart 21 erfolgreich sein, auf dem, wie erinnerlich, Gottes Segen (Claus Schmiedel/SPD) ruht. Aber selbst dort, wo es in Peter Maile einen eigenen Betriebsseelsorger gibt, ist nicht alles eitel Freude und Sonnenschein. Sein Motto "Gottes Antlitz auch in den staubigen Gesichtern entdecken" scheint immer wieder harten Prüfungen ausgesetzt zu sein. Siehe dazu sein Erfahrungsbericht von der Baustelle.

Guido Lorenz hat einen anderen Wahlspruch: "Stets laut sagen, was ist solidarisch, mutig und frei". Das Solidarische ist ihm in den Pulli gewoben, auf seine Fahne gedruckt, die er immer bei sich hat, wenn er zu Streiks, Demos oder nur zu Betriebsratssitzungen ausrückt. Manchmal hilft das mehr als die Kampfrhetorik der Gewerkschaft, die bisweilen in sehr irdischen Zwängen gefangen ist. Wie Anfang der 1990er Jahre, als Lorenz beim Daimler am Band gestanden und "An diesen Motoren klebt Blut" auf die Motoren gepinselt hat, die in Kriegsgebiete geliefert wurden. Das habe der IG Metall gar nicht gefallen, erzählt Gerd Rathgeb am Rande der Veranstaltung. Wegen der Arbeitsplätze. Rathgeb war einst Betriebsrat in Untertürkheim und Mitglied der gewerkschaftskritischen Plakat-Gruppe um Willi Hoss.

Lorenz ist ein eher unerschrockener Mensch. Hierin gleicht er seinem Lehrer Paul Schobel ("Der Kapitalismus ist Sünde"), der die Betriebsseelsorge nicht nur gegründet, sondern auch ideologisch unterfüttert hat.

Für ihn bedeutet sie unablässige Systemkritik, die Einnahme einer klaren "Opfer-Perspektive", näher ran, mehr Biss, gegen Hurra-Kapitalisten, Ressourcenausbeuter, Waffenexporteure und Kriegstreiber. Und Rudi Dutschke darf dann auch noch sein, mit Jesus‘ Auferstehung, die ihm als "entscheidende Revolution der Weltgeschichte" erschien. Eine Revolution durch eine alles überwindende Liebe. Das haben beide verinnerlicht. Der 65-Jährige und der 80-Jährige. Und beide haben dieses Lachen im Gesicht, das vor allem eines ausdrückt: Lebensfreude, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Mit dem Christdemokraten Rogg ab nach Nigeria

Da mögen die einen Schobel & Erben als linke Missionstruppe sehen, die anderen als Feigenblatt der Kirche, die dritten als Mitgliedsbeschaffer, die vierten als verrückte Systemstabilisierer – es ist ihnen egal. Solange sie überzeugt sind davon, keine andere Wahl zu haben.

Auf Lorenz folgt Diakon Michael Görg, der vorher Informatiker und Betriebsrat bei HP in Böblingen war. Er werde die Arbeit professionalisieren, vermutet Schobel, so sei der Lauf der Zeit. Der rote Lorenz wird sich mit dem schwarzen Rogg zusammentun und gen Nigeria ziehen, um dort zu helfen. In der Hauptstadt Lagos planen sie ein berufliches Ausbildungszentrum, mitgetragen von der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart, benannt nach Gloria, einer jungen Frau, die 2015 geflüchtet ist und Altenpflege lernt. Lorenz sagt, ihr Igbo-Name Onyinye Chukwu bedeute Geschenk Gottes, Rogg sagt, er sei noch nie ein Profitmaximierer gewesen, er arbeite sogar mit dem BUND zusammen.

Dann kann ja bei Gott, zur Freiheit, zur Sonne, nichts mehr schiefgehen.


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