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Zwölf Stunden sind kein Tag

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In seinem bitteren Film "Sorry we missed you" beschäftigt sich Ken Loach, der Altmeister der cineastischen Sozialkritik, mit der Branche der Paketdienste. Ausfahrer Ricky hat keine Chance, aber er versucht, sie zu nutzen.

Einer der Paketzulieferer hat dieses System nicht mehr ertragen, er hat sich lauthals beschwert und wurde sofort gefeuert. Jetzt müsse jemand dessen Route übernehmen, erklärt der bullige Boss (Ross Brester) im Verteilerzentrum seiner betreten herumstehenden Fahrertruppe. Niemand rührt sich. Eine Geste der Verweigerung und der stummen Solidarität. So soll es sein in einem Film von Ken Loach, der seit fünf Jahrzehnten Geschichten von der britischen Arbeiterklasse erzählt. Von einer Klasse, die ein Selbstbewusstsein hat, einen Stolz, eine eigene Kultur. Oder muss man sagen: die all dies mal hatte, aber nun, in den Zeiten des Neoliberalismus, all dies zu verlieren droht? Und es folgt in "Sorry we missed you", dem neuen Film des inzwischen 83-jährigen Regisseurs, jener Moment, in dem die Hoffnung stirbt, ja, in dem das Kino des Ken Loach nicht mehr solidarisch von der Arbeiterklasse, sondern nur noch von deren Trümmern erzählen kann. Der Familienvater Ricky (Kris Hitchen) nämlich, der gerade bei dieser Firma PDF ("Parcels delivered fast") angeheuert hat, ist so unter Druck geraten, dass er sich meldet und die Route übernimmt.

In seinem letzten Film "Ich, Daniel Blake", dem Cannes-Gewinner von 2016, hat Loach von einem kranken Arbeitslosen in Newcastle erzählt, der in den Fallen des britischen Sozialsystems vor die Hunde geht. Sein neuer Film, der ebenfalls in Newcastle spielt, beginnt mit einem Bewerbungsgespräch, in dem Ricky seine Jobs aufzählt – Klempnern, Betonieren, Gärtnern und so weiter – und dabei betont, dass er noch nie Arbeitslosengeld beantragt habe. So einen nimmt der Boss, der sowieso gern verkündet, dass jeder Herr seines Schicksals sei. Ricky sei auch kein Arbeiter in dieser Firma, er fahre ja auf eigene Rechnung. Was Rickys Scheinselbständigkeit dann im Detail bedeutet, das haben Loach und sein Drehbuchschreiber Paul Laverty genau recherchiert. Krank sein kann Ricky, der wegen der Finanzkrise den Traum vom eigenen Häuschen begraben musste und seitdem Schulden hat, sich nun gar nicht leisten. Wenn er ausfällt, muss er selber für Ersatz sorgen. Und wenn er zu spät liefert oder andere Company-Regeln verletzt, wird er zu saftigen Strafen verdonnert.

Vor allem aber braucht Ricky nun einen Lieferwagen, den er von der Firma teuer leasen oder selber erstehen kann. Weil er sich für Letzteres entscheidet, muss seine Frau Abbie (Debbie Honeywood), eine ambulante Altenpflegerin, auf ihren Kleinwagen verzichten. Sie fährt nun mit dem Bus zur Arbeit. Ricky kann also loslegen. Seine Arbeit wird jetzt bestimmt von einem Scanner, in den er die Pakete morgens einliest und dann deren Auslieferung (oder Nichtauslieferung) meldet, und der ihn auch überwacht: Wenn er sich zwei Minuten aus dem Scannerbereich entfernt, dann piepst's! Schnell muss alles gehen, so schnell, dass auch für natürliche Bedürfnisse zu wenig Zeit bleibt und ein erfahrener Kollege dem Neuling eine Flasche fürs Pinkeln in die Hand drückt.

Der Rückzug ins Private kann nicht gelingen

Szenen einer Dienstfahrt: keinen Parkplatz gefunden, den Van im Halteverbot abgestellt, Politesse droht mit Knöllchen; keiner zu Hause, Benachrichtigung (siehe Filmtitel!) in den Briefkasten gesteckt; Adresse falsch, nur noch Ruinen eines Hauses zu sehen; Aufzug im Wohnblock kaputt, zu Fuß die Treppe hochhetzen; verbitterter Mann, mit dem Nachbarn zerstritten, nimmt dessen Pakete nicht an; bissiger Hund, und nicht nur auf dem Warnschild. Manchmal auch lustige Szenen, etwa ein fanatischer Anhänger des örtlichen Fußballclubs, der den Manchester-Fan Ricky in eine hitzige Diskussion verwickelt. Insgesamt jedoch ein Job, der sich als Selbstausbeutungsmaschine erweist. Sechs Tage in der Woche. An jedem Tag zwölf Stunden. Arbeiterrechte? Gewerkschaften? Nein, nichts mehr da. Ricky ist jetzt ja Unternehmer! Die echten Unternehmer haben es also geschafft, ihren Arbeitern auch noch Risiko und Verantwortung zuzuschanzen.

Immerhin hat Ricky seine Familie. Aber der Film zeigt, wie auch diese unter dem Druck der Verhältnisse zu zerbrechen droht. Auch Abbie hat ja einen prekären Job, sie wird pro Besuch bezahlt, egal, wie lange der dauert. Sie sagt mal, sie wolle mit alten Menschen umgehen wie sie es mit ihrer Mutter tun würde, und wenn sie bei ihren physisch und oft auch psychisch geschwächten – und manchmal auch starrsinnig-renitenten – "Kunden" Essen verteilt, aufräumt oder auch nur zuhört, dann sieht man eine Frau, auf die ein altmodisches Adjektiv zutrifft: gütig. Einmal nimmt Ricky im Ehebett unter Abbies Nase einen Geruch wahr. Das komme von den Resten einer Salbe, die sie sich jeden Tat draufstreiche, sagt Abbie. Um das auszuhalten, was ihr Job eben auch beinhaltet, nämlich die Konfrontation mit Urin und Fäkalien.

Nein, das ist kein Wohlfühlfilm. Aber einer, der Zahlen, Fakten und Statistiken ins Menschlich-Individuelle zurückführt, der seine Protagonisten voller Empathie begleitet und auch Verständnis zeigt, wenn diese vor lauter Überforderung Dinge tun, für die sie sich später schämen. "Ich fluche nie!", sagt Abbie erschrocken, als ihr mal deftige Worte gegen Rickys Boss rausrutschen. "Ich habe noch nie zugeschlagen!", sagt Ricky, aber dann ist es eben doch passiert, als ihm nämlich sein schulschwänzender Sohn Seb (Rhys Stone) sagt, er wolle nicht so werden wie sein Vater. Der Halbwüchsige verweigert sich, er will in dieses ökonomische Rattenrennen gar nicht erst einsteigen, sondern hängt lieber mit seiner Sprayer-Gang rum.

Sebs jüngere Schwester Liza Jane (Katie Proctor) dagegen fühlt sich verpflichtet, mehr Verantwortung zu übernehmen, als einem Mädchen in ihrem Alter guttut. Einmal aber wird sie von Ricky mit auf seine Tour genommen, es wird ein schöner Tag, weil sie den Job nun wie ein Spiel angehen und vor allem, weil sie zusammen sind. Am nächsten Tag wird Ricky klargemacht, dass so etwas gegen die Regeln verstößt. Der Rückzug aus dem Reich der Politik in das Private, in die Wärme der Familie, er will und kann nicht gelingen. Weil dieses Private kein Bollwerk mehr bietet, das dem Ansturm der zeit- und ressourcenfressenden Ökonomie standhalten könnte. Oder vielleicht doch, zumindest noch eine Zeitlang? So liebevoll Ken Loach seine Menschen auch schildert, so sehr er auf ihrer Würde beharrt, und so gern er ihnen auch eine Chance gäbe: Wäre dies sein letzter Film und sein Vermächtnis, dann schimmerte unter dem unerschütterlichen Humanismus die politische Resignation hindurch.


Ken Loachs "Sorry we missed you" ist ab Donnerstag, 30. Januar in den deutschen Kinos zu sehen. Welche Spielstätte den Film in Ihrer Nähe zeigt, sehen Sie hier.


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