Ein langes Klingeln kündigt die erste Stunde an. Zwölf Personen mit geistiger Behinderung sitzen an einem langen Tisch, wie auf Leonardos Letztem Abendmahl: die Frauen mit Pelzmütze und schwarzem Reifrock, die Männer in dunklem Anzug, weißem Hemd. Einer beugt sich über den Overhead-Projektor und zeichnet auf die Folie, zwei weitere auf Tafeln, die anderen in ein vor ihnen liegendes Heft. "1. Kunst" steht in dem DIN A5-"S.c.h.u.u.l.h.e.f.t.", das an die Zuschauer verteilt wurde. Astronomie, Alchemie und Intergalaktische Forschung heißen weitere Fächer.
Die zwölf Darsteller sind am Vortag aus Thüringen angereist. Sie kommen aus der Diakonie-Einrichtung Carolinenfeld im Städtchen Greiz, zwischen Plauen, Gera und Zwickau im Vogtland. Das Theaterstück ist der letzte Akt der zehntägigen Ausstellung "Strike gently away" vom Kuratorenduo Birgit Gebhard und Maximilian Lehner (The Real Office) im neuen Projektraum des Kunstvereins Wagenhalle. Der Titel stammt von englischen Streichholzschachteln. Gemeint ist hier: alle nationalen, Geschlechter- und sonstigen Zuschreibungen sanft wegstreichen.
Das Klassenzimmer war von Anfang an Teil und Blickfang der Ausstellung. Das Stück haben Susann Maria Hempel und Cássio Diniz Santiago mit den Behinderten entwickelt. Sie stammt aus Greiz und hat mehrere preisgekrönte Experimentalfilme über ihren Heimatort gedreht. Er stammt aus São Paulo, hat dort Darstellende Kunst studiert und ist seither in verschiedenen Funktionen im Theaterbereich tätig. Als Stipendiaten der Solitude-Akademie lernten sie sich vor einigen Jahren in Stuttgart kennen. Das Stück war Hempels Idee, bei der Umsetzung konnte Santiago helfen. Seit zwei Monaten sind sie verheiratet.
"Fürchtet euch, fürchtet euch nicht"
In der zweiten Stunde machen alle irgendwelche Geräusche. Was steht im Schulheft? "Mechanik. Ordne zu" – dazu Zeichnungen von einem Flugzeug, einer Silvesterrakete und Begriffe wie Dampfmaschine, Abendbrotmaschine, Star-Wars-Maschine oder Blumenmaschine. Die dritte Lektion heißt "Kampfkunst". Das sieht man der Solodarbietung auch ohne das Schulheft an. In der vierten Stunde, Astronomie, fängt es an zu rocken: "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, aus – alle warten auf das Licht. Fürchtet euch, fürchtet euch nicht" – Rammstein, "Sonne".
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