Szenen wie aus einem gesetzlosen Paralleluniversum: Menschen nehmen sich ungefragt Essen aus dem Kühlschrank, eine Frau schlemmt Spargel aus einem Glas, ein Mann schmiert sich in Seelenruhe ein Brötchen. Jeder zahlt für sein Bier soviel, wie er oder sie gerade Lust hat. Auch für den Cappuccino und die Mate-Flasche kramt jeder einen anderen Betrag aus dem Geldbeutel. Dazu dudelt langsame elektronische Musik aus zwei länglichen schwarzen Boxen. Die Tafel mit dem Getränkeangebot, das mächtig über dem Tresen prangt, listet nur Getränke auf, keine Preise.
Doch nein, das sind keine Filmsequenzen, dies ist kein Paralleluniversum – sondern Realität. Genauer gesagt: Gelebte Utopie im Stuttgarter Westen, im Café "Raupe Immersatt", direkt an der Haltestelle Hölderlinplatz. Es ist der Eröffnungstag des bundesweit ersten und einzigen Foodsharing-Cafés. Dort finden Lebensmittel, die sonst der Tonne zum Opfer gefallen wären, ihren Weg in die Mägen der Besucherinnen und Besucher.
Lange waberte das Projekt als utopisches Ansinnen durch die Köpfe der Macherinnen und Unterstützer. Max, Maike, Simon, Jana und Lisandro bilden den harten Kern des Raupe-Teams. Erst wurde Geld gesammelt – über 26 000 Euro bei einer Crowdfunding-Kampagne. Dann fehlte nur noch eine Räumlichkeit. Kein einfaches Unterfangen in der Schwabenmetropole. Nach über zwei Jahren und einem in letzter Minute geplatzten Vertrag fand sich endlich eine geeignete Bleibe.
Zunächst einmal: "Labormonat"
Ein Café mit "Zahle-wie-du-dich-fühlst"-Prinzip – in Stuttgart? Das klingt mindestens gewagt. Lisandro Behrens (29), huttragender Mitorganisator der Raupe Immersatt, sitzt auf einer schmalen Treppe draußen vor dem Eingang. Er zeigt sich zuversichtlich: "Der Schwabe gibt lieber Geld für was Gescheites aus, das dann auch länger hält". Im Fall des Raupen-Cafés sollen guter Kaffee und gerettete Bio-Kost also ohne Preisdruck im Nacken überzeugen. Zudem werde den Gästen der ideelle Wert der Lebensmittel klar. Der ist Lisandro und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern besonders wichtig: "Essen hat nicht bloß einen Geldwert", so der 29-Jährige.
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