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Die Grünen und der Klimaschutz

Im Wissensvakuum

Die Grünen und der Klimaschutz: Im Wissensvakuum
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Selbst nach 15 Jahren Kretschmann haben sich im Südwesten grüne Ideen nicht wirklich ins kollektive Bewusstsein eingegraben. Im Gegenteil: Nur ein Viertel der Grünen-Anhängerschaft hält Umweltschutz und Klimawandel für die wichtigsten Probleme. Das zeigt, wie schwer Versäumnisse in der Politikvermittlung wiegen.

Was bleibt von Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg, besonders bei den grünen Kernthemen Umwelt- und Klimaschutz? Sogar Parteifreund:innen kommen ins Grübeln, wenn sie nach dem oder den größten und vor allem den bleibenden Erfolgen der Ära des bisher einzigen grünen Ministerpräsidenten in einem deutschen Bundesland gefragt werden. Die Bandbreite der Antworten reicht von der Durchsetzung des Nationalparks im Schwarzwald über die Stärkung des Ökolandbaus bis zur Vervielfachung der Mittel für den Naturschutz von 30 auf 120 Millionen Euro pro Jahr.

Andere Spuren, die Kretschmann hinterlässt, sind deutlich breiter. Spontan auf dem Schirm haben sie aber nicht einmal Landtagsabgeordnete. Beispiel: Der einstige Studienrat war noch gar nicht im Amt, sondern erst designiert, als er die seit den 1960er-Jahren ungeklärte Frage des Atommüll-Endlagers endlich ernsthaft in Schwung brachte – vor allem mit dem bis dahin von allen Landesregierungen hartnäckig vermiedenen Versprechen, dass bei der Suche nach einem geologisch geeigneten Standort selbstverständlich auch das mit fünf Atomreaktoren bestückte Baden-Württemberg Verantwortung für die hier produzierten radioaktiven Abfälle und darüber hinaus übernehmen werde.

Vermutlich müsste der Ministerpräsident hundert oder noch mehr Jahre alt werden, um die Früchte dieses Engagements ernten zu können. Rascher wird angesichts der sich stetig beschleunigenden Erderwärmung eine zweite Großtat ihre Tragfähigkeit beweisen müssen: Mit Kalifornien hat Baden-Württemberg vor zehn Jahren die "Under2-Koalition" mitgegründet, jene Koalition von Regionen und Ländern, die sich dem Klimaschutz unterhalb der Ebene der Nationalstaaten verschrieben haben. Inzwischen vertreten die Unterzeichner 1,75 Milliarden Menschen aus über 40 Nationalstaaten und mehr als die Hälfte der Weltwirtschaft auf allen fünf Kontinenten.

Grüne könnten so manche Erfolge offensiv vermarkten

Mittlerweile hat die Initiative eine Bedeutung bekommen, die ihre Initiatoren so sicher nie wollten. Seit der US-Präsident und Klimawandel-Leugner Donald Trump sämtliche einschlägigen internationalen Vereinbarungen gekündigt hat, müssen Bundesstaaten der USA auf die regionale Zusammenarbeit setzen. "Zehn Jahre, nachdem Kalifornien und Baden-Württemberg die Under2-Koalition gestartet haben, zeigen wir, dass wir mit sauberer Energie Arbeitsplätze schaffen, Umweltverschmutzung beenden und die Wirtschaft stärken", sagt der aktuelle kalifornische Gouverneur Gavin Newsom, der vor wenigen Tagen bei der globalen UN-Klimakonferenz COP30 im brasilianischen Belém empfangen wurde wie ein Superstar. Für den möglichen Kandidaten der demokratischen Partei bei der nächsten US-Präsidentschaftswahl ist dieses Bündnis der Beweis, dass Führung nicht nur von den nationalen Hauptstädten ausgeht.

Baden-Württembergs Grüne könnten dieses Bündnis und andere von ihnen angestoßene Maßnahmen ähnlich offensiv als Erfolge verkaufen. Doch haben sich auch nach 15 Jahren Regierungsbeteiligung ihre grünen Ideen offenbar nicht ins kollektive Bewusstsein des Landes eingegraben. Laut einer im Oktober veröffentlichten Umfrage von Infratest dimap hält selbst bei den Anhängern der Grünen nur gut ein Viertel (26 Prozent) den Komplex Umweltschutz/Klimawandel für das derzeit wichtigste Problem zwischen Main und Bodensee – bei allen Befragten sind es nur 12 Prozent.

Es ist in der Regel allzu billig, schlechte Umfrage- oder sogar Wahlergebnisse mit Defiziten bei der Vermarktung der eigenen Politik zu erklären. Baden-Württembergs Grüne liefern ein Gegenbeispiel. Denn in der Sache kennt die Bilanz seit 2011, als in der damaligen Regierungskoalition mit der SPD vollmundig versprochen wurde, "Der Wechsel beginnt", durchaus Positives. Nachdem der Windkraftausbau jahrelang eher schleppend voranging, ist der Südwesten im Ranking der Bundesländer nun zum "unangefochtenen Spitzenreiter" in der Frage eingereichter Genehmigungen von Windanlagen avanciert, wie es in einer Stellungnahme des Klimasachverständigenrats Baden-Württemberg heißt. Werden die schon gefassten Beschlüsse zügig umgesetzt, wäre das Klimaziel für 2040 schon beinahe erreicht. Außer einer Handvoll Fachpolitiker:innen und Berater:innen weiß davon kaum jemand, ganz zu schweigen von einer desinteressierten Öffentlichkeit.

Beim Werben für eigene Politik ist Luft nach oben

Dabei haben die Grünen in den Oppositionsjahren viel Erfahrung gesammelt zum Thema Meinungsführerschaft und Mobilisierung. Rudi Hoogvliet, von 2011 bis 2021 Kretschmanns Regierungssprecher, heute Medienstaatssekretär und Bevollmächtigter des Landes beim Bund, war mehrfach Kampagnenmanager, sogar ausgeliehen aus dem Südwesten, um grünes Gedankengut professionell in die Mitte der Gesellschaft zu transportieren. Als Wahlkampfmanager für die Landtagswahl 2011 darf er sich mitverantwortlich fühlen für Kretschmanns Ruf als Solitär in der Politikerkaste. Dieser sei ein Typ "mit Ecken und Kanten", wie Hoogvliet nach dem Wahlerfolg von 2011 analysierte, "der sich eben nicht von 'Bild' und Glotze leiten lässt und seine Entscheidungen begründen kann wie kaum ein anderer".

Begründen schon, beim Werben indes ist Luft nach oben. Partei und Landtagsfraktion haben sich viel zu lange auf die Strahlkraft des inzwischen längstdienenden baden-württembergischen Regierungschefs verlassen. Und darüber die Politikvermittlung aus den Augen verloren. So entstand ein Informationsvakuum beim Wahlvolk, das die Siegesaussichten im nächsten März beträchtlich schmälert. Belém hin oder her – selbst innerparteilich hat der Kampf gegen die Erderwärmung wenig Konjunktur seit dem Desaster rund um das Gebäudeenergiegesetz von Parteifreund und Ex-Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Gestrichen aus der allgemeinen Wahrnehmung ist die Aufarbeitung der gemachten Fehler. So hätte die hochgradig heikle Thematik viel besser erklärt werden müssen, um – als die Verhetzung begann ("Heizungshammer") – gegenhalten zu können.  

Ein aktuelles Beispiel von vielen für die untergegangenen Erkenntnisse ist der jüngste Länderreport der Internationalen Energieagentur, in dem Habecks Gebäudeenergiegesetz als "klarer und langfristiger rechtlicher Rahmen mit Zielen und Fristen für die Umstellung der Wärmeversorgung auf erneuerbare Energien" gelobt wird. Der Mut, solche Einschätzungen offensiv zu verbreiten, ist den Grünen abhanden gekommen. So entsteht eine doppelte Hypothek, weil sich zur Baisse ökologischer Konzepte die eigene Hasenfüßigkeit gesellt.

Output der UN-Klimakonferenz als Wahlkampffutter

Eine Gelegenheit, dem entgegenzuwirken, böte die COP30 in Belém. Allein schon über den Ort ließe sich eine Erfolgsgeschichte erzählen: Der Gründungsgrüne Willi Hoss, Stuttgarter Gewerkschafter bei Daimler und Bundestagsabgeordneter, konnte seinen Arbeitgeber vor Jahrzehnten davon überzeugen, aus von Bauern in Amazonien hergestellten Kokosfasern Teile der Innenausstattung von Autos herzustellen (Kontext berichtete). Dies führte nicht zuletzt zu einer Gastprofessur von Hoss an der Uni in Belém.

Baden-Württembergs Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) ist nun bei der COP in Belém vor Ort. Unterzeichnet wurde dort eine weitere Vereinbarung über die Zusammenarbeit in Fragen der Klimaanpassung und Widerstandsfähigkeit von Mensch, Natur und Infrastruktur gegenüber häufigeren Wetterextremen, ferner zum Wassermanagement in den zunehmenden Dürren und zur Förderung von Green Tech zwecks Erschließung neuer nachhaltiger Geschäftsfelder. Klimaschutz gelinge also selbst und gerade dann, wenn Nationalstaaten wie die USA ausscherten, sagt Walker.

Darüber hinaus spielten in Belém erstmals überhaupt Strategien gegen fehlendes Wissen und Falschinformationen eine Rolle. Schon bei ihrer Eröffnung vergangene Woche nannte Brasiliens Präsident Lula die diesjährige COP eine "COP of truth", darauf anspielend, dass aktuell in bislang ungekanntem Ausmaß weltweit desinformiert, durch die Macht von Social-Media-Plattformen Wissen zerstört und durch Fake News ersetzt werde,um notwendige Maßnahmen zu verschleppen oder politische Mehrheiten dafür zu verhindern. Als Gegenmaßnahme haben die brasilianische Regierung und die UN bereits im November 2024 die "Globale Initiative für Informationsintegrität im Klimawandel" gestartet.

Deutschland ist der Initiative beigetreten und hat die dazugehörige "Deklaration zur Informationsintegrität" unterzeichnet. Und hat damit die gemeinsame Verantwortung besiegelt, "Gesellschaften weltweit mit dem Wissen und den Informationen auszustatten, die sie brauchen, um der Klimakrise dringend und entschlossen zu begegnen". Eine Wahlkampf bietet vielfältigste Gelegenheiten, diesem Anspruch gerecht zu werden. Keineswegs nur den Grünen übrigens.

Hermann fühlt sich an Stuttgart 21 erinnert

Ein Beispiel für Informationsintegrität und wie kompliziert die Entwirrung von Halbwahrheiten sein kann: Unwidersprochen bleibt im Landtag von Baden-Württemberg in der vergangenen Woche stehen, dass die Grünen einen Antrag der CDU auf Basis des von Ministerpräsident Winfried Kretschmann mitverhandelten Verbrenner-Kompromisses nicht mittragen wollten. Der sieht ein Bekenntnis zur Elektromobilität vor, zugleich aber lockerere Übergangsfristen als Alternative zum europaweiten Neuzulassungs-Aus ab 2035. Das Thema ist komplex, die Möglichkeiten, Halbwahrheiten zu verbreiten, sind vielfältig. Hängen bleibt, dass der verkehrspolitische Sprecher der CDU-Fraktion Thomas Dörflinger "ziemlich angefressen" ist, weil der Koalitionspartner zum gemeinsamen Vorgehen nicht bereit gewesen sei.

Keine Widerworte, keine Erklärung der Grünen, nicht auf Kontext-Nachfrage und nicht einmal als Winfried Hermann verkürzt zitiert und zum Rücktritt aufgefordert wird. Der grüne Verkehrsminister hatte sich in seiner Rede zu E-Mobilität und Klima in die Schuhe imaginärer Menschen gestellt, die sich angesichts der inhaltlichen Schnittmengen in der Haltung zum Verbrenner fragten, ob es nicht einen Schulterschluss gebe, wenn CDU, FDP und sogar die AfD so argumentierten. Wieder bleibt nur – diesmal besonders – Verkürztes hängen, die Vokabel "Schulterschluss". Hochoffiziell fordert FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke den Ministerpräsidenten auf, Hermann umgehend zu entlassen. Es sei eine "beispiellose und unsägliche Entgleisung, für die Landesregierung zu erklären, es gebe einen Schulterschluss zwischen CDU und AfD". Wer dies als Haltung der Landesregierung öffentlich vertrete, der habe "in einem demokratischen Kabinett nichts mehr zu suchen".

Das Klima im Plenarsaal heizt sich immer weiter auf, Hermann fühlt sich an den Konflikt um Stuttgart 21 von vor 14 Jahren erinnert, "so emotional und wenig argumentativ". Auch dass er den unpassenden Begriff Schulterschluss umgehend zurücknimmt, führt nicht zur Beruhigung. Vielmehr gibt es einen Vorgeschmack auf einen konfrontativen Wahlkampf und insbesondere darauf, wie die FDP um ihren hochgradig gefährdeten Verbleib im Landtag kämpfen wird. Und ins Bild der um sich greifenden grünen Verzagtheit passt, dass niemand dem verunglimpften Verkehrsminister zur Seite springen mochte: niemand aus der Partei, nicht aus Fraktion oder Kabinett.

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