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"Initiative für einen handlungsfähigen Staat"

Reformprosa

"Initiative für einen handlungsfähigen Staat": Reformprosa
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Er ist 160 Seiten stark, der neue Bericht, der Ideen zusammenfasst, um "unsere Demokratie leistungsstark zu halten". Lauter warme Worte – in Baden-Württemberg zeigt sich derweil, wie die Umsetzung von Reformplänen im Schneckentempo vorangeht.

Die Erwartungen sind groß, die Versprechungen noch größer, am größten jedoch die Gefahren. Denn wieder einmal, diesmal sogar mit dem Segen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, wird das Bild einer überforderten Republik gezeichnet, die dringend umgekrempelt gehört. Die ehemaligen Bundesminister Peer Steinbrück (SPD) und Thomas de Maizière (CDU) sowie der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle haben sich zusammengetan, um die "Initiative für einen handlungsfähigen Staat" zu gründen. Und weil auch eine Frau dabei sein musste, haben sich die Männer Julia Jäkel an die Seite geholt, die Verlegerin, Multi-Aufsichtsrätin und Gattin von TV-Ikone Ulrich Wickert.

In sieben Gruppen erarbeiten rund 50 Mitglieder aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Verwaltung ein Kompendium an Vorschlägen, das Mitte August beim Freiburger Herder Verlag sogar als Buch erscheint. Schon das Vorwort enthält lyrische Formulierungen, etwa wenn die Autor:innen von einem Land schreiben, das wir "alle gemeinsam wieder zum Erblühen bringen". Und zugleich davon, dass zentrale Fragen wie die Zuwanderungspolitik bewusst ausgeklammert bleiben.

Bekanntlich ist Papier geduldig. Und im vorliegenden Fall bemerkenswert, wer selbiges überhaupt beschriften durfte. Kein einziger Gewerkschafter beiderlei Geschlechts hat es in den erlauchten Reformzirkel geschafft. Und für viele Menschen existenzielle Probleme ihres Alltags werden abgehandelt in nonchalanter Tonlage: "Wir richten unser Augenmerk nicht auf einzelne Sachfragen wie etwa die Erneuerung des Rentensystems, ein gerechteres Steuersystem, die Bekämpfung von Kinder- oder Altersarmut oder die Frauenerwerbstätigkeit." Stattdessen liege die Konzentration auf den "Gelingensbedingungen" von Reformen: "Wir schauen auf die Strukturen, die vorhanden sein müssen, damit Politik überhaupt glücken kann."

Und zu diesen Strukturen heißt es wirklich inspiriert und inspirierend: "Veränderung gelingt immer dann (und nur dann), wenn sich genügend Menschen finden, die Reformen vorantreiben, also eine kritische Masse aktiv wird, und zwar auf allen Ebenen – im ministeriellen Mittelbau, in Behörden, in den kommunalen Verwaltungen." Daher sei eine Reform der Verwaltung eine der drängendsten Gelingensbedingungen, die Erneuerungsfreudigen müssten im Inneren gestärkt, "Macherinnen und Macher von außen angezogen werden".

Finanzierungsfragen ausgeblendet

Wer tiefer einsteigt, entdeckt im Bericht innovative Einfälle. So soll beim Thema Rüstungsbeschaffung der Bundestag künftig weniger Einfluss haben als bisher. Und abgelehnte Asylbewerber:innen sollen schon ab dem Zeitpunkt eines rechtskräftigen Bescheids – also vor einer möglichen Klage – durch die Bundespolizei Abschiebehafteinrichtungen zugeführt werden, für deren Betrieb der Bund zuständig werden soll statt wie bisher die Bundesländer.

Finanzierungsfragen werden besser gleich gar nicht behandelt, zum Beispiel, wenn es heißt, "Schulleitungen und Lehrkräfte werden von administrativen, technischen und sozialpsychologischen Aufgaben und von Berichtspflichten befreit". Für diese Tätigkeiten werde Fachpersonal eingestellt. Stichworte wie Teilzeit, Tarifpartner oder -bindung finden keinerlei Eingang ins wegweisende Werk. Auch um die Aufnahme von Schulden, um das eine oder andere Projekt umzusetzen, machen die Vordenker:innen einen ganz großen Bogen. Insofern hat Winfried Kretschmann (Grüne) den Finger in eine Wunde gelegt, wenn er ganz andere Formate anmahnt, nämlich solche zwischen Bund, Ländern und Kommunen, damit die Reformen "vom Papier in die Tat überschreiten".

Dabei spricht der baden-württembergische Ministerpräsident durchaus aus Erfahrung. Denn im deutschen Südwesten liefert Grün-Schwarz eindrucksvoll eine Blaupause dafür, dass einschlägigen Erkenntnissen keine Konsequenzen folgen – selbst wenn sie sich gar nicht allumfassend mit dem Umbau des Staates, sondern nur mit einem Tortenstück davon befassen. Schon 2022 beschäftigte sich der damals von der früheren CDU-Landtagsabgeordneten Gisela Meister-Scheuffelen geführte Normenkontrollrat (NKR) des Landes mit dem Dickicht der Förderprogramme. Die Entbürokratisierungsfachleute plädierten für Vereinfachungen, für mehr Transparenz und eine Zentralisierung, konkret die Einrichtung einer landesweiten Förderdatenbank und eines "zentralen Referats zur Qualitätssicherung der Förderprozesse des Landes Baden-Württemberg".

Selbst bescheidene Vorhaben bleiben auf der Strecke

Nach den auf 80 Seiten zusammengefassten Ergebnissen folgte wenig, außer einer neuerlichen Analyse durch einen zweiten Normenkontrollrat, vorgelegt kurz vor der Sommerpause. Bestätigt werden wieder einmal Erfahrungen seit den Tagen von Lothar Späth oder Erwin Teufel (beide CDU, Ministerpräsidenten von 1978 bis 1991 und von 1991 bis 2005). Danach ist es das eine, Pläne zu schmieden, sie zum Wohle aller zu realisieren das andere. Und so wird auch in der zweiten Analyse eines Normenkontrollrates, drei Jahre nach der ersten, fast wortgleich erneut eine "zentrale Stelle für das Förderwesen" vorgeschlagen, weil das Förderwesen als Querschnittsaufgabe strategisch ausgerichtet werden müsse.

Die Regierungspräsidien bieten inzwischen umfangreiche, leicht zugängliche und thematisch gegliederte Informationen zu den Fördertöpfen. Der zweite NKR, der mithilfe von KI 414 Landesprogramme identifiziert hat, beklagt aber die nach wie vor fehlende Transparenz, wodurch sich Redundanzen oder Ineffizientes nur schwer erkennen ließen. Das ausgestellte Zeugnis ist aber selbst ohne diesen Durchblick, allen voran beim Megathema Digitalisierung, ziemlich vernichtend, weil bisher nur bei 30 Programmen eine durchgehend digitalisierte Bearbeitung von Anträgen möglich ist und das zuständige Innenministerium "den vollständigen Rollout" erst für 2028 vorsieht.

Für die noch ziemlich neue Bundesregierung aus Union und SPD ist die Digitalisierung ebenfalls der Lackmustest für Gestaltungskraft und -willen. Zwar konnte die "Initiative für einen handlungsfähigen Staat" zahlreiche einschlägige Empfehlungen schon im schwarz-roten Koalitionsvertrag unterbringen. Deren Umsetzung sei aber offen, sagt Baden-Württembergs frühere Kultusministerin Annette Schavan (CDU), die als Vorsitzende des Vorstands der Hertie-Stiftung und damit als eine der Geldgeberinnen mitbeteiligt war, neben drei weiteren Stiftungen (Fritz-Thyssen, Mercator und Bucerius). Dabei dränge die Zeit, angesichts einer Ungeduld vieler Menschen, "wie wir sie noch nie erlebt haben".

Der Reformkreis empfiehlt kräftige Arbeitsmuskeln

Eine zentrale Rolle kommt Karsten Wildberger (CDU) zu, dem neuen Bundesminister für Digitales und Staatsmodernisierung. Union und SPD wollen erstmals alle digitalen Zuständigkeiten des Bundes in einem Haus bündeln und dem sogar einen Zustimmungsvorbehalt für neue IT-Vorhaben in allen Ressorts einräumen. Die Umstrukturierung gestaltet sich jedoch deutlich schwieriger als gedacht. "Zum Erfolg dieses Ministeriums gehört mehr als seine Errichtung", schreiben schon die Reformer:innen Wildenberger ins Stammbuch, "fürs Gelingen braucht es kräftige 'Arbeitsmuskeln'".

Da könnten zwei Länder in den Blick kommen, die im kommenden Frühjahr wählen: Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Danach ist eine ganze Legislaturperiode und fünf Jahre lang Zeit zur Erprobung und zur so sehr geforderten Umsetzung von Vorschlägen. Der baden-württembergische CDU-Fraktions- und Landeschef Manuel Hagel hat sich kürzlich sogar regelrecht angeboten als "großer Freund des Futur zwei", kaum mehr gebräuchlich, für ihn aber "pure Motivation" – nach dem Motto: "Ich werde etwas geschafft haben." Die Steilvorlage lieferte er sich selber mit der Ansage im vergangenen November, ganze Verwaltungsebenen streichen zu wollen. Mit Gemeinden, Landkreisen, Regionalverbänden, den Regierungspräsidien und dem Land mit den Landesoberbehörden gebe es fünf im Land: "Ich finde, da können mindestens zwei weg." Weiterverfolgt ist der Plan bisher jedoch nicht.

Die vier Reformer:innen wollen mit ihrem Bericht dazu beitragen, "Blockaden und Selbstblockaden staatlichen Handelns aufzulösen". Und sie schlagen, nicht ausdrücklich, aber immerhin zwischen den Zeilen, den Bogen zum Erstarken der AfD und zum Ausgang der Bundestagswahl im Februar, der Zäsur, aber auch Chance sei. Alle spürten, schreiben sie, "wir müssen etwas tun, dringend, schnell und grundlegend". Wirklich alle? Sogar die, die die finanziellen Möglichkeiten dazu locker hätten? Vokabeln wie Umverteilung, Steuergerechtigkeit oder sozialer Ausgleich kommen auf den 160 Seiten jedenfalls nicht vor.

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1 Kommentar verfügbar

  • JueSo Jürgen Sojka
    am 10.08.2025
    Antworten
    "unsere Demokratie leistungsstark zu halten". [Fn_1] – dazu müsste es auch sein, was tagtäglich zu erleben:
    gelebte DEMOKRATIE erleben – ist es jedoch nicht!!!

    Gerade bei den 4 Abgebildeten lassen sich grundlegende Defizite erkennen:
    A.) Lüge ist Gift für die Demokratie – so Muhterem Aras in…
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