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Entlastungsallianz

Frauen? Nein danke

Entlastungsallianz: Frauen? Nein danke
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Baden-Württemberg hat eine sogenannte Entlastungsallianz, die Bürokratie abbauen soll. In der Praxis diskutieren in dem Gremium ausschließlich Männer, welche Standards entsorgt werden können.

Nur mal so dieses gedankliche Experiment: Sämtliche Präsidenten von Gemeindetag, Städtetag, Landkreistag, Industrie- und Handelskammertag und Handwerkstag, vom Sparkassen-, Genossenschafts- sowie der Geschäftsführer des Arbeitgeberverbands schicken zur nächsten Sitzung der Entlastungsallianz ihre Stellvertreterinnen. Oder, wenn nicht vorhanden, eine andere Frau aus der Leitungsebene. Ziemlich wahrscheinlich kämen die Frauen auf noch ganz andere Vorschläge, die Verwaltung des Landes schneller, effizienter und digitaler zu machen.

Die Alleinherrschaft der Männer im entscheidenden Lenkungskreis ist mehr als nur ein Geburtsfehler der Entlastungsallianz, die in bisher drei Tranchen Ideen zu Verschlankung, Deregulierung und Digitalisierung erarbeitet hat. So wie das Gremium angelegt ist, konnten überhaupt nur Männer vertreten sein, weil Frauen noch gar nicht aufgestiegen sind in die höchsten Karrierestufen der beteiligten Verbände. Schon während der Arbeit an der ersten Erklärung hätte auffallen müssen, dass ein signifikanter Teil nicht repräsentiert wird: So trägt das erste Papier der Allianz, erschienen im Juli 2023, die Unterschriften von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), seinem Stellvertreter Thomas Strobl (CDU), Steffen Jäger (Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg), Ralf Broß (Vorstandsmitglied des Städtetags Baden-Württemberg), Joachim Walter (Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg), Christian Erbe (Präsident des baden-württembergischen Industrie- und Handelskammertags), Rainer Reichhold (Präsident des baden-württembergischen Handwerkstags), Thomas Bürkle (Vizepräsident der Unternehmer Baden-Württemberg), Peter Schneider (Präsident des Sparkassenverbands Baden-Württemberg) und zu guter Letzt Roman Glaser (Präsident des baden-württembergischen Genossenschaftsverbands).

Verlangt wurde gemeinsam, "dass alles auf den Tisch gelegt und überprüft werden darf". Besonders dreist war schon damals der Plan, "ein Bewusstsein für Prioritäten und wirklich notwendige Aufgaben" zu schaffen, dafür, "wie mit den verfügbaren Ressourcen das beste Ergebnis erzielt werden kann".

An die Männer: Nicht jede Idee ist ein guter Einfall

Weil es in allen acht beteiligten, ein breites Spektrum der Gesellschaft abdeckenden Organisationen bisher auch im dritten Jahrtausend im Südwesten keine Frau an die Spitze geschafft hat, dürfen Expertinnen, wenn überhaupt, zuarbeiten beim Bürokratieabbau. Schon das ist schlimm genug. Noch schlimmer ist jedoch, dass aber auch keiner der politischen Entscheider auf die Idee verfiel, die Scheuklappen abzunehmen und den Kreis der Beteiligten zu erweitern. Der so oft beschworenen Zukunftsfähigkeit, um die es doch gehen soll, stellt das ein mieses Zeugnis aus. 

Wie etwa würden die Vertreterinnen der Wohlfahrtsverbände die Absicht bewerten, in Pflegeheimen künftig weniger zu kontrollieren und insgesamt weniger Vorgaben zu machen? Oder jene der Naturschutzverbände den Plan, die Nachhaltigkeitsberichterstattung einzudampfen? Oder Gewerkschafterinnen die Absicht, Kita-Gruppen noch größer werden zu lassen? Was würde der Landesfrauenrat als Dachverband aller Frauenvereinigungen im Land hinter verschlossenen Türen sagen zum männlichen Desinteresse an weiblicher Partizipation? In vielen Sonntagsreden zum Thema Gleichstellung werden gemischte Teams gelobt als kreativer und fortschrittlicher. Am Montag wollen die Chefs dann wieder unter sich sein, um allein Nägel mit Köpfen zu machen.

Politisch schwer wiegt zudem, dass Grüne und CDU einst ganz anderes versprochen hatten. Schon im Koalitionsvertrag von 2016 ging es darum, dass "gleiche Aufstiegschancen und gleiche Bezahlung für gleiche und gleichwertige Arbeit selbstverständlich sein müssten". Oder darum, dass "bei allen politischen Vorhaben und Entscheidungen die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern grundsätzlich und systematisch berücksichtigt werden". Überhaupt solle eine ausgeglichene Repräsentanz von Frauen und Männern auf allen Verwaltungsebenen, in den Gremien und in den Unternehmen des Landes entwickelt werden. Dafür, dass die so sehr gepriesene Entlastungsallianz als zentrales Gremium für die Zukunft des Landes agieren sollte, ist das gründlich misslungen.

An die Umsetzung der Vorschläge geht es dennoch. Dazu legte die Allianz im Dezember ein Entlastungspaket mit gut 50 Maßnahmen vor. Die Arbeit ist zäh, weil vieles von Digitalisierungsfortschritten abhängt, etwa im Umgang mit Schüler:innen-Daten, in der Gesundheits- oder der Jagdverwaltung, in den Forstämtern – und überhaupt, wenn Möglichkeiten, digitale Anträge zu stellen, noch nicht einmal im Ansatz vorhanden sind.

Jetzt muss nur noch Europa mitspielen

Anderes fällt in die Zuständigkeit des Bundes oder von Europa. Dementsprechend appelliert das Gremium, die Monate zu nutzen, wenn Baden-Württemberg ab Juli den Vorsitz der Europaministerkonferenz übernimmt. Details gibt es dazu noch keine. Aber "wir haben den Mut, innovative Ansätze des Bundes auch im Land aufzugreifen und fruchtbar zu machen", schreibt die Entlastungsallianz. Viele Pflichten könnten fallen, bis hin zu den Themen, wer in einer Verkaufsstelle sonntags arbeitet oder die Aufsicht über Groß- und Schwertransporte. Noch lange nicht geklärt ist, ob die Neuerungen überhaupt halten, ob sie praxistauglich sind und tatsächlich den erhofften Schub zur Entbürokratisierung bringen.

Doch keine Cheerleader 

Es muss Satire gewesen sein: Als "Drei Engel für Friedrich" präsentierten sich Nina Warken, Dorothea Bär und Julia Klöckner in den sozialen Medien im Bundestagswahlkampf strahlend an der Seite des CDU-Bundesvorsitzenden Friedrich Merz. Immerhin, alle drei haben den Aufstieg geschafft, und doch gibt es eine gläserne Decke in der Union mit weitreichenden Auswirkungen. Im Koalitionsausschuss der neuen Bundesregierung – jenem zentralen Gremium, das Konflikte beseitigen oder besser noch gar nicht entstehen lassen soll, das Vereinbarungen einem Feintuning unterzieht, und neue Herausforderungen antizipiert – sitzt auf schwarzer Seite keine einzige Frau. Das sei eine Strukturfrage, erläutert CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann und merkt gar nicht, was er da sagt. Die Strukturen in seiner Partei und in der CSU sind also weiterhin so veraltet, dass Frauen gegenwärtig gar nicht erst in Ämter kommen, die dann zum Aufstieg in den Koalitionsausschuss befähigen.

Jedenfalls können die drei oben erwähnten Engel sich verdient machen durch Weckrufe im Sinne von etwas oder deutlich mehr Geschlechtergerechtigkeit im eigenen Laden. So musste Bär CSU-Jungs Beine machen, um endlich die Repräsentanzlücke von Frauen im Freistaat zu schließen. Klöckner hat schon mal ganz gut angefangen, indem sie der Partei und damit nicht zuletzt dem Parteichef kraftvoll gegen das Schienbein trat: Diese Besetzung des Koalitionsausschusses sei "ein ganz, ganz schlechtes Zeichen". Warken wiederum muss Kraft eines zweiten neuen Amtes liefern. Die Bundesgesundheitsministerin ist seit vergangenem Wochenende auch Vorsitzende der Frauen-Union und könnte zum Beispiel revolutionär verlangen, dass die Chefinnen der Frauen-Organisationen grundsätzlich mit im Koalitionsausschuss sitzen. Wenn der Ausschuss "Herz und Hirn der Bundesregierung sein soll, dann fehlt ihm noch Entscheidendes: Frauen", rief ihr ihre Vorgängerin Annette Widmann-Mauz im Abgang zu. Und: Dass die Frauen-Union "keine Cheerleader-Gruppe in der politischen Bundesliga ist, und unsere Frauen auch keine Groupies männlicher Polit-Stars". Gutes Gelingen!  (jhw)

Skepsis muss dazu der Ausblick auf anstehende Prüfungen wecken. "Mit hoher Dringlichkeit" wird vorgeschlagen, den Weg zu haftungsrechtlichen Erleichterungen zu prüfen. Da müssen alle Alarmglocken klingen. Denn: Wer ist am Ende verantwortlich, wenn in einem Schnellverfahren Genehmigungen erteilt werden, die rechtlich doch nicht belastbar sind? Gesetze sollen Ablaufklauseln bekommen können, und vor allem wird eine Änderung des Landespersonalvertretungsgesetzes verlangt. Der Beamtenbund stellt sich gegen diese von den Kommunalverbänden und der CDU befürwortete Veränderungen von Freistellungen. Eine Ausweitung war 2014 von Rot-Grün beschlossen worden und dient gerade in den Augen von Praktiker:innen der Verschlankung und Beschleunigung, weil der Austausch von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen zu mehr und nicht zu weniger Effizienz führe.

Ohnehin noch ein großer Zankapfel wird die Digitalisierung insgesamt. Denn vor der Entlastung müssen umfangreiche Einarbeitungs- und Schulungsprozesse stehen. Auch in dieser Frage rächt sich, dass Verbände und Gewerkschaften nicht mit am Tisch sitzen – sogar doppelt. Geführt wird Verdi in Baden-Württemberg zwar von einem Mann, von Martin Groß. Spezialisiert auf den Umgang mit neuen Prozessen ist aber auch seine Stellvertreterin Hanna Binder. Die weiß aus der Praxis – und nicht aus der Präsidenten-Etage – genau, wie notwendig und aufwändig Mitarbeiter:innen-Schulungen sind, wie lange es dauert, bis neue Abläufe sitzen, zumal für Beschäftigte in Teilzeit, oder wie wichtig es ist, Zeit zuerst nicht zu verknappen, sondern zur Verfügung zu stellen, damit keine Kultur der Angst vor Fehlern entstehe. Denn die würde erst recht nicht zu den so dringend erhofften Vereinfachungen führen. Vielleicht sollte der Männer-Club sich doch noch, zumindest einmal, einer Frauen-Runde stellen, bevor er die Aktendeckel am Ende der Legislaturperiode schließt. Sachdienlicher als weiter im eigenen Saft zu schmoren wäre es allemal.

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