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Klagen über Bürokratiemonster

Monströse Mogelpackung

Klagen über Bürokratiemonster: Monströse Mogelpackung
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Das Versprechen, Bürokratie abzubauen, ist zum Totschlagargument verkommen. Viele Umwelt- oder gesellschaftspolitische Fortschritte sollen verhindert, hart erkämpfte Standards abgebaut werden. Ausgerechnet Baden-Württembergs Spitzengrüne sind dazu auch bereit.

Ein Gespenst geht um in Deutschland, oder besser, ein Monster. "Wir beobachten besorgt", schreibt der Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft e. V. dieser Tage, "dass das Narrativ verfängt, das neoliberale Unternehmensorganisationen und Industrielobby derzeit orchestrieren, um nachhaltige Transformation gleichzusetzen mit Bürokratiemonstern." In den Führungsebenen werde oft über Veränderung nur als zusätzliche Belastung gesprochen. Und bei der Politik fänden alle die, die schon deutlich weiter sind und sich einlassen auf neue Anforderungen zum Wohl von Umwelt und Gesellschaft, zu selten Gehör, klagt der Verband.

In Baden-Württemberg liefert Ministerpräsident Winfried Kretschmanns Staatsministerium eine Blaupause. Denn mit am Tisch der 2023 gegründeten und vom einflussreichen Amtschef Florian Stegmann (beide Grüne) geleiteten sogenannten "Entlastungsallianz" sitzen erstens nur Männer und zweitens der Genossenschafts- und der Sparkassenverband, die IHK, der Städte-, der Gemeinde- und der Landkreistag, das Handwerk und die Unternehmen. Entlarvend ist allerdings, wessen Meinung überhaupt nicht interessiert beim angeblich herausragend wichtigen Thema für die Zukunft des Landes. Nicht geladen sind DGB oder GEW, Naturschutz-, Umwelt- und Wohlfahrtsverbände, der Landesfrauenrat oder die sonst so gerühmte Zivilgesellschaft – als offenbar nicht wichtig genug. Dabei haben beispielsweise Gewerkschafter:innen und der BUND sich gerade erst gemeinsam mit der sozial-ökologischen Transformation als gesamtgesellschaftlicher Aufgabe befasst, Ideen entwickelt und in einer Erklärung an die Bedeutung von Gerechtigkeit und Rückhalt durch breite Mehrheiten erinnert.

Um beides, Gerechtigkeit und Rückhalt, geht es in der Entlastungsallianz definitiv nicht. Stattdessen dreht sich zu vieles um Absenkung oder gar Beseitigung von Standards, zum Beispiel in der Kindertagespflege, um die "Entschlackung von Förderungen". Auch der ÖPNV soll unverzüglich in den Blick genommen werden. Es geht um weniger Aufsicht, weniger Kontrollen, weniger Vorgaben, weniger Verantwortung.

Schon im Februar wurden die ersten 22 Maßnahmen vorgestellt. Die konnten aber ausgerechnet den Vertreter:innen von Wirtschaft und Kommunen nicht gefallen und wurden belächelt als "niedrig hängende Früchte".

Jetzt, zum Start in den landespolitischen Sommer, wurde in Stichpunkten ein zweites Paket präsentiert. Digitalisierung ist ein immer wiederkehrender Begriff als Schlüssel zur Verwaltungsvereinfachung, der aber auch ohne Allianz und in sogenannte Themencluster eingeteilte Arbeitsgruppen längst erkannt ist. Zum Beispiel wenn verlangt wird, die Führerscheinantragstellung online zu ermöglichen. Andere Punkte klingen verdächtig nach Deregulierung oder gar Rückabwicklung, etwa wenn die Lärmschutzplanung eingefroren, Kontrollen in Wasserschutzgebieten reduziert oder Unternehmen aus EU-Staaten vom Lieferkettengesetz befreit werden. Und dennoch sind Wirtschafts- und Kommunalverbände wieder nicht zufrieden. "Wir müssen feststellen, dass es hinter den selbst gesteckten Ansprüchen der Entlastungsallianz zurückbleibt", heißt es in einer ersten Stellungnahme zum Paket.

Laut Statistik sinkt der Zeitaufwand für Bürokratie

Reaktionen aufs Maßnahmenpaket

Christian O. Erbe, der Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertages (BWIHK), ist Teil der Entlastungsallianz und deshalb von besonderer Bedeutung, wie er die jüngsten grün-schwarzen Beschlüsse zu Bürokratieabbau und zu Verfahrensbeschleunigungen in der letzten Kabinettssitzung vor den Ferien bewertet. Erbe spricht von "Lichtblicken" und sein O-Ton Bände: "Wir brauchen mutige Entscheidungen, so wie beispielsweise bei der Entschlackung der Verwaltungsvorschrift Beschaffung. Schwellenwerte wo immer möglich erhöhen, Nachweis-/Berichts- und Dokumentationspflichten durch Abgabe einer Selbsterklärung erfüllen, Rechtsakte mit Ablaufdatum versehen – das sind einige unserer grundlegenden Vorschläge zum Bürokratieabbau." Regelrecht frech ist die Reaktion von Handwerkspräsident Rainer Reichhold, denn der behauptet, "die Politik" habe "kurz vor der Sommerpause wieder in den Arbeitsmodus gefunden" und setzt auf diese Weise komplizierte Verhandlungen unter Koalitionspartnern mit Nichtstun gleich. Landeswirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) legt dennoch willfährig einen oben drauf, wenn sie auf dem Unternehmertag "einen Wachstumsturbo" verlangt und die Prioritäten neu zu setzen: "mehr Markt, weniger Staat". Und sie koffert gleich auch noch – ohne Namensnennung – die wiedergewählte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) an, wenn sie gegen "politisch verordnete Verbote à la Verbrennungsmotor" agitiert, wiewohl beide Aufreger-Begriffe im einschlägigen EU-Beschluss gar nicht vorkommen. Was Hoffmeister-Kraut natürlich weiß. Oder wissen müsste.  (jhw)

Grundlage der Arbeit der Entlastungsallianz sind ein eher einfältiger Masterplan der Landesregierung sowie die reichlich optimistischen und vornehmlich im Waschmittelreklameduktus gehaltenen Verheißungen des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann: "Land, Kommunen und Wirtschaft können zusammen viel erreichen und gemeinsam ungenutzte Potenziale des Bürokratieabbaus erschließen." Fehlanzeige hingegen ist zu vermelden im Hinblick auf eine ernsthafte Analyse der Ausgangslage. Denn Statistiker:innen in Land und Bund verweisen darauf, dass der Aufwand der Unternehmen für das Sammeln von Daten oder das Bestehen von Kontrollen, wie etwa zur Verwendung von Förderungen aus Steuermitteln, deutlich weniger Zeit schlucken als allgemein behauptet. So schreibt das Statistische Bundesamt seit 2012 einen im Netz leicht einsehbaren "Bürokratieindex" fort, der "den gesamten messbaren Zeitaufwand und die Kosten, welche durch die Befolgung bundesrechtlicher Vorschriften in Unternehmen entstehen", dokumentiert. Belegt ist, dass dieser Zeitaufwand stetig sinkt.

Eine Botschaft, die aber nicht durchdringt und der interessierte Kreise engagiert entgegenarbeiten – keineswegs nur, um Bürokratie zum Wohle der Bürgerschaft, der Verwaltung und der Wirtschaft zu verringern. Denn die CDU-Landtagsfraktion verbindet mit dem Dauerthema ein ganz anderes Ziel: Die Grünen sollen getrieben werden, nicht zuletzt, weil die Strateg:innen erkannt haben, dass und wie sich die Grünen treiben lassen.

Im Spiel über Bande zwischen Wirtschaft und Kommunen geht es sogar fest im Koalitionsvertrag von 2021 vereinbarten Vorhaben an den Kragen: keine Rede mehr von konkreten Anstrengungen Baden-Württembergs, Klimaschutzland Nummer eins zu werden. Die Mobilitätsgarantie und der damit verbundene ÖPNV-Ausbau sind ohnehin schon Geschichte, es wird weniger Recycling und Kreislaufwirtschaft angestrebt als geplant, die Fortschreibung der Gleichstellungsstrategie wird gerade eingesammelt, und das Landesantidiskriminierungsgesetz ist von allen, die immer schon dagegen waren, entlarvt. Als was wohl? Als Bürokratiemonster.

Ausbeutung verhindern: nicht mit CDU und FDP

Dabei sind im Koalitionsvertrag ohne Wenn und Aber gesetzliche Regelungen fest versprochen mit "dem Ziel, Diskriminierungen wirkungsvoll zu verhindern und das Vertrauen zwischen der Bürgerschaft und allen öffentlichen Stellen des Landes weiter zu stärken". Den vielen Kritiker:innen in CDU und FDP, in Wirtschaft und Kommunen liefert ausgerechnet der neue, vom Grünen Dieter Salomon geführte Normenkontrollrat (NKR) die Steilvorlage, weil laut diesem "die geplanten Regelungen die gesamte Verwaltungstätigkeit des öffentlichen Dienstes unter einen Generalverdacht der diskriminierenden Amtsausführung stellen". Die harte Kritik, analysiert "queer.de", sei "Wasser auf die Mühlen der Kommunalen Landesverbände und Teilen der CDU-Fraktion, die das Vorhaben ablehnen".

Letztere erlaubt inzwischen sogar auf offener Bühne einen Einblick in ihre Taktik, Stimmung gegen unliebsame Vorhaben zu machen, um zu punkten – jüngst in einer Debatte im Südwest-Landtag über die Ausbeutung von Praktikant:innen, der die EU endgültig einen Riegel vorschieben möchte. Sarah Hagmann, neue grüne Abgeordnete aus Lörrach, nachgerückt für den Europapolitiker Joshua Frey, hat in ihrer ersten Parlamentsrede viel Richtiges gesagt. Dazu, dass Praktika nicht der Verschleierung regulärer Jobs dienen und Praktikant:innen nicht als günstige Arbeitskräfte ausgenutzt werden dürften. Dass es richtig ist, gegen Missbrauch vorzugehen, weil der nicht zuletzt jenen Arbeitgeber:innen schadet, die faire Bedingungen bieten.

Nach der jungen Mutter, die Geschichte, Deutsch und Politikwissenschaften studiert hat, sprach Manuel Hailfinger ganz so, als wäre seine CDU die Grünen als Koalitionspartner schon los und – wie so sehr erhofft für die nächste Legislaturperiode – in einer Regierung mit den Liberalen und, wenn unbedingt nötig, mit der SPD. Der Jurist und Versicherungskaufmann nannte die Vorgaben aus Brüssel "Bürokratiemonster". Hans Dieter Scheerer (FDP) stieß sofort ins selbe Horn. Die EU stelle alle Arbeitgeber unter Generalverdacht, dabei würden "die meisten ihre Praktikanten hegen und pflegen". Müssten sie jetzt aber Daten liefern, könnten sie sogar durch Dritte verklagt werden.

Zum Schwur für die Grünen wird es in Sachen Praktikum kommen, wenn Wirtschaftsstaatssekretär Patrick Rapp (CDU) seine Ankündigung wahrmacht, im weiteren Gesetzgebungsverfahren Anpassungen durchzusetzen. Das ist eine Drohung vor allem für die Betroffenen angesichts seiner Kritik an den neuen und durchaus sinnvollen Vorgaben, darunter der Verpflichtung für Unternehmen, Daten über ihre Praktikant:innen für Kontrollen bereitzuhalten und gegebenenfalls zu übermitteln. Und eine Drohung an die Adresse der Koalitionspartner. Die Grünen aber schweigen inzwischen. Sogar Hagmann selber sagt auf Anfrage gar nichts mehr.

Bürgerbeteiligung in die Mottenkiste

Zum Schwur muss es aber auch noch bei einer ganz anderen und für Kretschmanns Bilanz zentralen Frage kommen. Denn unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus müssen nach den Vorstellungen der Kommunalverbände sogar Teile seiner "Politik des Gehörtwerdens", die der Stärkung von Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, in die Mottenkiste. "Bürgerentscheide sollen dort ausgeschlossen sein, wo es um gemeinwohlbezogene Infrastruktur zum Beispiel in den Bereichen Schule, Kita, ÖPNV sowie bezahlbares Wohnen geht", heißt es unter anderem in einer nächsten Wunschliste an die Adresse der Entlastungsallianz. Den CDU-Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel wissen die Kommunalverbände auf ihrer Seite. Der nennt die Stellungnahme "wertvoll". Sie treffe "bei uns in der CDU-Landtagsfraktion einen echten Nerv und offene Türen". Denn Bürokratieabbau "kann und muss auch wehtun", sagt der 36-jährige Hagel, der so gerne nächster Regierungschef werden möchte. Und dann schiebt er noch eine Formulierung hinterher, deren Adressat im Zusammenhang mit Bürgerbeteiligung nur Winfried Kretschmann sein kann: "Heilige Kühe wären hier vollkommen fehl am Platz."

Winfried Kretschmann ist nicht nur langgedienter Grüner, sondern auch längstdienender Landtagsabgeordneter. Er hätte sich zur Einordnung eigener Versprechen gut an die Bemühungen vor genau 20 Jahren erinnern können, als die CDU-FDP-Landesregierung unter Erwin Teufel den Amtschef des Staatsministeriums Rudolf Böhmler als neuen Ombudsmann installierte. Immerhin mit einem Titel, in dem nicht nur Bürokratieabbau vorkam, sondern auch Begriffe wie Deregulierung und Aufgabenabbau. Die Ergebnisse seines segensreichen Tuns blieben jedoch weit hinter allen Erwartungen zurück. Als einen Grund – neben fehlenden Zuständigkeiten, weil oft Bund oder EU federführend verantwortlich sind – nannte er selber im Rückblick, dass jeder einzelne Vorschlag einen erheblichen Abstimmungsbedarf mit sich bringe, der sich zum Teil auch erst in der Umsetzung offenbare.

Dafür, wie dick die gebohrten oder eben gerade nicht gebohrten Bretter sind, stehen die Auflagen für Narrenzünfte. Die versprach schon Böhmler deutlich zu reduzieren. Erst 2019 (!) veröffentlichen seine Nachnachfolger:innen im damaligen Normenkontrollrat, angeführt von Gisela Meister (CDU), umfangreiche Vorschläge zur Entlastung von Vereinen. Noch immer warten viele auf eine Umsetzung durch die zuständigen Ministerien.

Manch Banales kann dagegen schnell gehen. Eine Mitarbeiterin hat in die aktuellen Beratungen die Idee eingebracht, Ehrungen des Landes bei Arbeits- und Dienstjubiläen in der privaten Wirtschaft zu vereinfachen. Statt Jubilar:innen den Bürgermeisterämtern zu melden, die ihrerseits den notwendigen Antrag stellen, und das Staatsministerium einzuschalten, wird "nach Möglichkeit noch im Jahr 2024" eine digitale Plattform geschaltet zur Entlastung "für das Land, die Bürgermeisterämter und die Wirtschaft". Zugleich wirft es kein gutes Licht sowohl auf die Innovationsbereitschaft im Staatsministerium selber als auch auf die Möglichkeiten Beschäftigter aus unteren Verwaltungsebenen, mit guten Ideen durchzudringen, dass es dafür eine Entlastungsallianz braucht.

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1 Kommentar verfügbar

  • Uli_am_Neckar
    am 27.07.2024
    Antworten
    Zurecht hält der Autor dem Heuchler Kretschmann seine früher propagierte "Politik des Gehörtwerdens" als Phrase vor, erinnert ihn an seine früheren Ideale. Das hat progressive Kontinuität:

    "Im letzten Wahlkampf (Anm.: 2011) erzählte Winfried Kretschmann bei einer Veranstaltung, dass große…
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