Im Stuttgarter Gemeinderat schafft die AfD es nicht, sich mit ihren Anträgen durchzusetzen. Das liegt weniger an der konservativen Partei als an der ökosozialen Mehrheit. Es ist keine Seltenheit, dass CDU- und AfD-Stadträt:innen im Rat und in Ausschüssen bei Abstimmungen zusammen die Hände heben. Im Juli 2023, nachdem Merz auf Twitter sich gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene ausgesprochen hatte, bedauerte dies der Stuttgarter CDU-Fraktionschef Alexander Kotz ausdrücklich. Sollte "eine vernünftige Idee der AfD" die Stadt voranbringen, werde seine Fraktion dem zustimmen.
Mit Vernunft oder gar Anstand ist bei der AfD-Gemeinderatsfraktion aber nicht weit her. Erst vergangene Woche führte sie im Gemeinderat ein "Kasperletheater" auf, wie es Hannes Rockenbauch (SÖS) nannte. Es ging um die Neubesetzung in städtischen Aufsichtsräten, nachdem Luigi Pantisano (Linke) und Simone Fischer (Grüne) in den Bundestag gewählt worden sind und deshalb aus dem Gemeinderat ausschieden. Dass Vertreter:innen der Linken, der Grünen und der SPD ihre Mehrheit nutzen, um AfD-Stadträte in den Aufsichtsräten zu verhindern, nennt AfD-Stadtrat Michael Mayer "mindestens faschistoid" und spricht von einem "Ansatz zu totalitärem Denken". Kotz stört sich an solchen diffamierenden Äußerungen nicht, erklärt vielmehr, er wolle gerne mit Vertretern der AfD in Aufsichtsräten diskutieren.
Und als es in einem folgenden Tagesordnungspunkt um den Bau von neuen Flüchtlingsunterkünften geht – schließlich ist die Unterbringung von Geflüchteten kommunale Pflichtaufgabe und rund 2.300 sind derzeit in Notunterkünften einquartiert –, lässt es sich AfD-Stadtrat Thomas Rosspacher nicht nehmen, wieder gegen die Schwächsten zu wettern. Er spricht von "Bauvorhaben für Einwanderer", die "angeben, auf der Flucht zu sein" und kritisiert hohe Kosten, die "durch die ungebremste und illegale Einwanderung entstehen". Er fordert das Prinzip der Konnexität einzuhalten: Wenn das Land von der Kommune verlangt, die Geflüchteten unterzubringen, müsse es dafür auch die Mittel stellen. Und er tobt: "Ausreisepflichtige müssen ausreisen!" Die Verwaltung solle geltendes Recht umsetzen und zuerst an "ihre eigenen Bürger" denken. Am Ende stimmt der Gemeinderat mit knapper Mehrheit für den Bau der neuen Unterkünfte. AfD und CDU stimmen geschlossen dagegen. So weit klafft die Lücke zwischen Theorie und Praxis.
Und Jens Spahn liebäugelt mit der AfD
Im Europaparlament ist die Umsetzung der Brandmauer ebenfalls kompliziert. Sie sei gängige Praxis, beteuert zwar Daniel Caspary, der Chef der Gruppe der CDU/CSU-Abgeordneten und baden-württembergischer CDU-Landesvize. Er könne aber "trotzdem nicht ausschließen, dass mal die eine oder andere Seite im EP eine Zufallsmehrheit bekommt, weil Extremisten und Populisten eben auch an Abstimmungen teilnehmen". Jens Spahn hat am vergangenen Wochenende noch einen ganz anderen Topf aufgemacht und in der "Bild"-Zeitung – wo auch sonst – empfohlen, zentrale bisherige Regeln im Umgang mit der AfD über Bord zu werfen und mit der Partei so umzugehen, wie mit jeder anderen Oppositionspartei. Der seit 2016 durchgehaltene Schulterschluss von Grünen, CDU, SPD und FDP im Landtag wäre damit Geschichte. Spahn verlangt nach einer "richtigen Balance" und will doch nichts anderes als die funktionierende richtige Balance zerstören.
Charly Chaplins Meisterwerk "Der große Diktator" findet am Ende dagegen tatsächlich die richtige Balance und endet bekanntlich als Märchen mit einer glücklichen Fügung und der Verwechslung von Adolf Hitler. Im richtigen Leben werden sich alle demokratischen Parteien "auf allen Ebenen", wie Union und SPD so schön geschrieben haben, ernsthaft Gedanken machen müssen, um Sperrminoritäten wie in Thüringen zu verhindern. In Erfurt blockiert die AfD die Besetzung von Ausschüssen für die Richter- und Staatsanwaltschaftswahlen, um mit Jörg Prophet einen der ihren als Vizepräsidenten durchzusetzen. Der verbreitet gern Nazi-Mythen, eine Verwechslung ist leider ausgeschlossen. Denn seine Verfehlungen sind umfangreich dokumentiert und damit auch, dass es nicht um einen anderen organisatorischen Umgang geht, sondern darum, sich gegen die Zersetzung der Demokratie zu wehren.
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