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Migration und Populismus

Den Rechtsstaat schützen

Migration und Populismus: Den Rechtsstaat schützen
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Mit faktenfreien Behauptungen hat die Union die Hürden an sich selbst in der neuen Bundesregierung so hoch gelegt, dass die Erwartungen kaum zu erfüllen sind. Am Beispiel Migration erläutert der Sozialwissenschaftler Gerald Knaus im baden-württembergischen Landtag, wie gefährlich die Strategie sein kann.

Er ist ein Handlungsreisender in Sachen Vernunft. Auf Kongressen, in Talkshows, im Netz, in Parlamenten, vor und mit Spitzenpolitiker:innen versucht der österreichische Sozialwissenschaftler Gerald Knaus seit Jahren, Ordnung ins komplizierte Thema Zuwanderung zu bringen. Vergangene Woche ist er in Stuttgart und erfährt im Europaausschuss des baden-württembergischen Landtags viel Zustimmung. Sie könne jedes Wort unterschreiben, sagt sogar CDU-Obfrau Sabine Hartmann-Müller. Dabei liest der Gast ihrer Partei – wie immer verbindlich im Ton – ganz schön die Leviten.

In der Sozialpolitik, Stichwort Bürgergeld, in Fragen wirtschaftsfreundlicher Steuersenkungen, im Umgang mit Heizungs- oder Lieferkettengesetz oder beim Mindestlohn sind im Bundestagswahlkampf Begehrlichkeiten geweckt worden. Besonders große beim Thema Migration, und dazu zeigt sich besonders deutlich, was dabei herauskommt. Eineinhalb Stunden nehmen sich die Abgeordneten Zeit für den "grundsätzlichen Austausch der Gedanken", wie der Ausschussvorsitzende sagt, der frühere Finanzminister Willi Stächele (CDU). Mehrfach appelliert Knaus, der eigens angereist ist, auf unerfüllbare Verheißungen zu verzichten: Ansagen, die hart, aber rechtlich nicht zu machen sind, nährten nur die ganz rechten Parteien in Europa.

Der 55-jährige Salzburger weiß, wovon er spricht, und hat seine Heimat besonders im Blick. Österreich gehöre zu jenen Ländern, wie Ungarn oder die USA seit der Wiederwahl von Donald Trump, in denen Parteien an die Macht gekommen oder sehr groß geworden sind, "um über die Einwanderungsfrage den Rechtsstaat selbst loszuwerden".

Der FPÖ-Vorsitzende Herbert Kickl wurde in Österreich schlussendlich doch nicht Kanzler, weil die Koalitionsverhandlungen mit der bürgerlichen ÖVP scheiterten. Inzwischen regieren ÖVP, SPÖ und die liberalen Neos miteinander, bisher vergleichsweise geräuschlos und konsensual. Knaus erinnert allerdings daran, dass die weit rechts stehende FPÖ in der Demoskopie derzeit bei über 30 Prozent und damit über dem Nationalratswahlergebnis vom vergangenen Herbst steht. "Wenn diese österreichische Regierung platzt, werden wir in Schwierigkeiten geraten", befürchtet er, weil dann die extremen Rechten tatsächlich in Regierungsverantwortung kommen könnten.

Ganz ähnliches prophezeien nicht nur, aber vor allem Unionspolitiker:innen für die Bundesrepublik. Markus Söder spricht martialisch sogar von "der letzten Patrone der Demokratie " – es müsse gelingen, einen Richtungswechsel zu organisieren, denn sonst werde Deutschland weiter nach rechts außen schlingern. Ohne Bayerns Regierungschef beim Namen zu nennen, kontert Knaus mit einem Plädoyer für Lösungen, die sich nicht in Rhetorik erschöpfen, sondern tatsächlich Veränderungen liefern.

Als positives Beispiel nennt der Migrationsforscher einmal mehr den baden-württembergischen Sonderstab "Straffällige Ausländer", der 2017 vom Innenministerium eingerichtet wurde. Knaus lobt diesen Stab, der für eine schnelle Abschiebung Krimineller sorgen soll, weil der Ergebnisse liefere. Das sei wichtig, weil die Bevölkerung immer dann verärgert oder verängstigt reagiere, wenn offenbart werde, "dass Menschen Verbrechen begehen, die bereits Verbrechen begangen haben". Da zeige der Staat eine Schwäche. Deshalb müssten die für Abschiebungen zuständigen Länder genau daran "konzentriert arbeiten". Das immer wieder gehörte Argument, es gebe zu wenig Personal, lässt er nicht gelten, weil gerade in Deutschland viel zu viel Arbeitszeit verwendet werde auf den Versuch, Asylbewerber:innen ins EU-Ersteinreiseland zurückzuüberstellen. Das hat nach seinen Erkenntnisse zu gerade mal 700 Anträgen weniger in der ganzen Republik im ganzen Jahr 2024 geführt.

Nein, Deutschland war und ist nicht überbelastet

Nach den aktuellen Daten aus dem Landesjustizministerium mussten seit 2018 etwa 500 schwerkriminelle, ausländische Straftäter Baden-Württemberg verlassen. Dass Zahlen allein aber nicht schon zu faktenbasierten Debatten führen, zeigte sich am vergangenen Wochenende. Zunächst die Springer- und in der Folge viele andere Medien frohlockten über einen "Paukenschlag", weil Deutschland "mit Blick auf die Asylanträge erstmals seit Jahren nicht mehr Spitzenreiter in der EU ist". So wird wieder mal das weit verbreitete Gefühl bestätigt, das Deutschland im europäischen Vergleich eine ungerechte Überbelastung zu tragen habe.

Mehr ausgewiesen, mehr Einwanderung

Noch ein Erfolg in der Logik derer, die Asylbewerber:innen in Baden-Württemberg möglichst schnell wieder loswerden wollen statt sie am heimischen Arbeitsmarkt zu nutzen. Und zwar ein Erfolg, für den es keine neue Bundesregierung und keine markigen Worte gebraucht hat, sondern eine Kooperation mit dem zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Durch beschleunigte Verfahren für Geflüchtete aus den sicheren Herkunftsstaaten des sogenannten Westbalkans, aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien, mit einer Anerkennungsquote von unter einem Prozent, kann direkt aus der Erstaufnahme abgeschoben oder eine freiwillige Ausreise eingeleitet werden. Die zuständige Landesjustizministerin Marion Gentges (CDU) hat neue Zahlen vorgelegt: 2024 wurden 840 Personen zurückgeführt, weitere 650 sind freiwillig ausgereist. Das entspreche einem Anstieg von knapp 42 Prozent, und diese Entwicklung setze sich auch in 2025 fort: Allein im ersten Quartal 2025 wurden 303 Personen in die Staaten des Westbalkans abgeschoben, im Vergleich zu 210 im Jahr 2024.

Nur die Grünen werden gerade beim Blick auf die genannten Länder nicht müde zu betonen, dass zugleich auch Einwanderungskorridore und damit legale Möglichkeiten eröffnet worden sind, um nach Deutschland zu kommen. Und zwar für immerhin 25.000 Menschen, die in Mangelberufen so dringend gebraucht werden.  (jhw)

Es geht – wieder einmal – um absichtliche oder fahrlässige Stimmungsmache. Im vergangenen Jahr sind in der Bundesrepublik 237.300 Asylanträge Anträge verzeichnet worden, bei 84,7 Millionen Einwohner:innen. Werden die Zahlen umgelegt in eine viel aussagekräftigere Pro-Kopf-Statistik, kommt Deutschland gerade mal auf Platz acht. Hinter Zypern, Spanien oder der Schweiz. Im Jahr davor war es auf Platz fünf, unter anderem hinter Österreich oder Estland. Seit mehr als einem Jahrzehnt hat sich aber hierzulande die Behauptung von der überdurchschnittlich gepeinigten Bundesrepublik festgesetzt.

Knaus versucht gegenzuhalten und will ein Bewusstsein dafür wecken, dass das Land es spätestens seit Angela Merkels "Wir schaffen das" mit einer Mischung aus Desinteresse, Fehlinterpretationen und oft genug schlichter Ignoranz durch Politiker:innen zu tun hat. Noch einmal Österreich: Dort hätten seit 2017 konservative Innenminister die Verantwortung getragen, die in den Wahlkämpfen und danach im politischen Alltag auch harte Migrationsansagen gemacht hätten. Doch tatsächlich sei in dieser Zeit der Rechtsstaat aufrecht erhalten, mehr Menschen aufgenommen und auch mehr Schutz vergeben worden als in Deutschland. Die Herausforderung bestehe darin, Kontrolle zu erhalten oder wieder herzustellen, "ohne Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit zu opfern". Zum Beispiel durch Vereinbarungen mit Drittstaaten, die europäischen Standards entsprächen.

Klarer Kopf und klare Werte

Nicht nur richtig gedeutete Zahlen können die Sinne schärfen, sondern ebenso der Blick in eigene Parteiprogramme. In ihrem an Spitze und Basis hoch gelobten neuen Grundsatzprogramm schlägt die CDU gerade keine polarisierende Tonlage an, etwa wenn es heißt, es komme "nicht darauf an, woher jemand kommt, sondern darauf, was er mit uns gemeinsam erreichen will". Oder wenn ein Islam, "der unsere Werte nicht mitträgt" als nicht zu Deutschland gehörend beschrieben wird, zugleich aber Muslime anerkannt werden als Teil der religiösen Vielfalt. Es wird dafür geworben, Asylanträge in Drittstaaten stellen zu können. Zugleich lesen sich die Passagen zu Grenzkontrollen deutlich realistischer als das Wahlkampf-Stakkato von Aufnahmestopp und Grenzkontrollen. Im Programm heißt es vielmehr zurückhaltend, Kontrollen an den Binnengrenzen müssten "möglich bleiben" und "prinzipiell mit der Zurückweisung von Personen verbunden werden".

Knaus nimmt sich im Europaausschuss – ebenfalls ohne Namensnennung, aber es weiß ohnehin jede:r, wer gemeint ist – sogar den CDU-Bundesvorsitzenden Friedrich Merz zur Brust, wegen des Eindrucks, den dieser in Sachen Grenzschließungen erweckt hat. Abgesehen davon, dass derartige Schließungen nicht mit EU-Recht konform gehen und "für Deutschland eine Katastrophe wären", sei es nicht sinnvoll, "in Kufstein gut ausgebildete Bundespolizisten auf einem Acker sitzend eine Straße beobachten zu lassen, wenn Leute nur wenig weiter ungehindert die grüne Grenze passieren können".

Noch eine Falle, die sich die Union selbst gestellt hat, da konnten Expert:innen wie der Salzburger sich auf höchster Ebene den Mund noch so fusselig reden: Die Einreisezahlen gehen – auch durch Verschärfungen der Ampelregierung – bereits jetzt und ganz ohne die unerfüllbaren 180-Grad-Asylwende-Forderungen der Christdemokrat:innen zurück. Laut Landesjustizministerium kamen, wie es amtlich so schön heißt, "mit Verbleib in Baden-Württemberg" 2023 knapp 36.400 Asylbewerber:innen ins Land, 2024 waren es 22.100. Und schon seit September 2024 weist die Statistik nur Rückgänge aus, allein für den März 2025 um 1.800 Anträge im Vergleich zum März 2023.

"Erforderlich sind ein klarer Kopf, klare Werte und klare Visionen", sagt Knaus zum Abschied einen seiner Standardsätze. Dazu muss die Bereitschaft kommen, auf Stimmungsmache zu verzichten und sachlich zu diskutieren. Spätestens die nächste Plenardebatte zur Migrationspolitik im Land wird zeigen, wie es darum bestellt ist.

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1 Kommentar verfügbar

  • Kurt
    vor 3 Wochen
    Antworten
    Das sehe ich aus eigener Erfahrung in meiner Nachbarschaft ebenso: Dass "die Bevölkerung immer dann verärgert oder verängstigt reagiere, wenn offenbart werde,
    'dass Menschen Verbrechen begehen, die bereits Verbrechen begangen haben'".

    Es fehlen 2 weitere Themen:
    1) Die stets eskalierende Not…
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