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AfD-Wahlkampfauftakt zur Europawahl

"Du wärst doch eine für die Jot A"

AfD-Wahlkampfauftakt zur Europawahl: "Du wärst doch eine für die Jot A"
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Sprechen Weidel, Chrupalla & Co., ergibt sich eine Mischung aus sexistischen Kommentaren, Populismus und hetzenden Lügen. AfD-Europawahlkampf-Auftakt in Heilbronn aus der Sicht einer jungen, ausländischen Frau – inklusive einem Rekrutierungsversuch durch die Junge Alternative.

Die 4-7-8-Methode habe ich in der Schule gelernt. Wir sollten sie vor Vorträgen anwenden: vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden den Atem anhalten, acht Sekunden ausatmen. Das soll beruhigen, Stress reduzieren und den Blutdruck senken. Am vergangenen Samstag rettet mich dieser einfache Trick, denn Nervensystem und Atemrhythmus liefern sich das Battle des Jahrhunderts, als ich inmitten von 1.400 Menschen aus ganz Süddeutschland im Heilbronner Konzert- und Kongresszentrum Harmonie sitze: AfD-Wahlkampfauftakt zur Europawahl.

Angekündigt sind die vier AfD-Riesen Alice Weidel, Tino Chrupalla, Maximilian Krah und Stephan Brandner. Spoilerwarnung: Trotz des Veranstaltungstitels "Europa neu denken" wird die EU so gut wie gar nicht erwähnt.

19 Uhr. Gebannte Stille. Alle setzen sich etwas aufrechter hin, plötzlich springen sie von ihren Stühlen auf. Ich fühle mich wie inmitten einer kreischenden Menge von Teenagern, die ihren Popstar-Schwarm endlich live sehen und vor Herzrasen fast in Ohnmacht fallen. Doch weder Justin Bieber noch Taylor Swift stehen auf der Bühne. Stattdessen Alice Weidel. Im Publikum sitzen großteils Männer, die meisten mindestens 40 Jahre alt. Hunderte Handys sind auf die Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion gerichtet, alle jubeln, klatschen, strahlen sie mit leuchtenden Augen an.

Sachte beginnt sie zu reden, die Stimme ruhig, gefasst. Als sie beim Thema Corona, Impfungen und Nebenwirkungen ankommt, erreicht sie ihre rhetorische Klimax und schreit förmlich ins Mikro. Plötzlich ein Cut. Ganz leise, beinahe zerbrechlich fährt sie fort. Wo denn die Aufarbeitung sei für die Kinder, für die "verlorene Generation". Ihre Sätze beginnt sie am liebsten mit "meine Freunde" – ich fühle mich nicht persönlich angesprochen. "Leute, die keine Berufsausbildung haben, werden entweder Politiker oder Journalist." Jetzt fühlꞌ ich mich schon eher persönlich angesprochen. Weiter geht's über die "Hilfs-Stasi Correctiv" und das Potsdamer Treffen bis zur "Bildungsmisere". Bei dem Stichwort schweife ich gedanklich kurz ab zu einem Plakat, das ich drei Stunden vorher am Heilbronner Frankenstadion gelesen habe: "Das B in AfD steht für Bildung."

Hauptsache nicht mit der Antifa

Dort demonstrieren am Nachmittag desselben Tages 2.000 Menschen gegen die rechtsextreme Veranstaltung in der Harmonie. So die Angabe der Polizei, persönlich geschätzt waren es mindestens doppelt so viele. Die bunten Plakate und Fahnen leuchten nach einem kurzen Regenguss in der strahlenden Sonne. Aufgerufen hat das "Netzwerk gegen Rechts Heilbronn" (NgR), unterstützt von über 50 Organisationen, darunter "Institutionen, Vereine, Einzelhändler, Tätowierer, Handwerker und viele mehr", sagt einer der Veranstaltenden vor dem Start des Demozugs. Auch die Grünen, die Partei, die Linke und die SPD sind dem Aufruf gefolgt. Davor gedrückt haben sich lediglich CDU und FDP, stärkste und viertstärkste Fraktion im Heilbronner Gemeinderat. In gewohnter Manier demonstrieren sie nicht an der Seite der Antifa, denn "Extremisten bekämpft man nicht mit Extremisten", argumentiert Nico Weinmann, Fraktionsvorsitzender der Heilbronner FDP.

Die Stimmung im bunten Demozug ist gut. Menschen singen zu Provinz, Danger Dan und Großstadtgeflüster, ziehen durch die Heilbronner Innenstadt bis zur Kundgebung vor der Veranstaltungshalle. Und lassen sich dort selbst vom strömenden Regen und eisigen Wind nicht vertreiben. Während ein junger Mann aufs Dach steigt, eine "FCK AFD"-Fahne schwenkt und einen Bengalo vor den Eingang der Harmonie wirft, füllt sich im warmen Inneren der Halle der Saal.

Hauptsache schön

Im Foyer gibt es Infomaterial und AfD-Buttons zum Mitnehmen. Ich will bereits unbeeindruckt daran vorbeilaufen, als mein Blick an kleinen quadratischen AfD-blauen Verpackungen hängen bleibt. Diese Partei, die bei der Bundestagswahl 2017 mit dem Slogan "Neue Deutsche? Machen wir selber" warb, verteilt Kondome? Perplex greife ich zu – doch nur Brillenputztücher. Angesichts des Durchschnittsalters das weitaus sinnvollere Giveaway. Ich gehe weiter Richtung Saaltür, komme aber nur wenige Schritte weit. Drei junge Männer beobachten mich von der Seite, schließlich traut sich der augenscheinlich älteste – kurze braune Haare, unauffällige Kleidung –, mich anzusprechen: "Du wärst doch eine für die Jot A", die AfD-Jugendorganisation. Da muss ich erstmal schlucken. Ich sehe mich um und stelle fest, dass ich als junge Frau hier eine Minderheit bilde. Was noch dazukommt: Ich bin blond, helläugig und -häutig und entspreche äußerlich ziemlich genau dem, was sich die AfD unter der perfekten Deutschen vorstellt. Und somit auch unter der perfekten Rekrutin für die Junge Alternative, die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde.

Seit vier Jahren sei er überzeugter AfDler, erzählt der jüngste. Der scheiteltragende 22-Jährige in militärgrünem Strickpullover, farblich passender Hose und braunen Schnürstiefeln steht stramm vor mir, die Augenbrauen mürrisch zusammengezogen. Er komme eigentlich aus einer links-progressiven Familie, mittlerweile habe er alle seine Verwandten von der AfD überzeugt, schließlich gehe es darum, die deutsche Kultur zu wahren, den deutschen Stolz zu verteidigen. Und daraufhin will er mir einreden, ich solle zumindest meine Stimme der AfD geben, wenn ich schon nicht eintrete. Meinen klar hörbaren Südtiroler Akzent hat er offenbar nicht wahrgenommen und mich stattdessen als Biodeutsche gelesen.

Als ich kurz vor Veranstaltungsbeginn den Saal betrete, ist er bereits rappelvoll, nur noch wenige Plätze sind frei. Ich setze mich zwischen zwei Männer höheren Alters. Eine Alkoholfahne liegt in der Luft. "Bist du vom Verfassungsschutz?", will der eine sofort wissen. "Nein, von der Presse", erwidere ich. Abscheu in den Gesichtern der beiden. Der Fragende zeigt auf meinen Stuhl, den er mir soeben großzügigerweise angeboten hat: "Du hast Glück, dass du schön bist." Eins, zwei, drei, vier, zähle ich beim Einatmen. Sieben Sekunden halten, acht Sekunden ausatmen.

Hauptsache guter Hintern

Auf Weidel folgt Krah, der auf "TikTok" junge Wähler:innen gewinnen will, indem er ihnen erzählt, echte Männer seien rechts. In Böhmermanns "ZDF Magazin Royale" hat er es damit immerhin schon geschafft. Zur EU fällt ihm wenig ein, außer: Grenzen schließen, Green Deal aufgeben, Verbrennerverbot aufheben und die Macht von Brüssel zu "Alice und Tino" zurückholen. Kein Wort über das Wahlprogramm der AfD, das sich für mich wie die Beschreibung einer dystopischen Parallelwelt liest: Die EU solle durch eine "Neue Europäische Wirtschaftsgemeinschaft souveräner Nationalstaaten" ersetzt werden, der Euro solle der "neuen Deutschen Mark" weichen, das Schengener Abkommen solle reformiert werden und die Nationalstaaten sollten mehr Grenzkontrollen durchführen.

Ich bin im Jahr 2000 geboren, ich kann mich an kein Europa ohne Euro erinnern, die Grenze zwischen Italien und Österreich war für mich immer eine fiktive und nur dadurch bemerkbar, dass bei ihrer Überschreitung plötzlich alle Handys im Auto aufploppten. SMS: "Benvenuto in Austria", "Herzlich willkommen in Österreich". Ich bin in einem geeinten Europa aufgewachsen, umso schmerzlicher empfand ich den Brexit. Fragt mich jemand, als was ich mich fühle, sag ich gerne "Europäerin".

Doch so viel Inhalt ist bei Krah, der etwa fünf Mal vom AKW Heidelberg spricht, bis das Publikum ihn aufklärt, dass wir uns in Heilbronn befinden, gar nicht zu erwarten. Sogar mein Sitznachbar ist enttäuscht. Er hätte sich etwas mehr Konkretes zur EU gewünscht, sagt der 63-jährige gebürtige Thüringer, der einst die CDU wählte und heute die AfD, "einfach weil es mal eine Veränderung in den Parteien braucht". Während wir – einander zugewandt – miteinander sprechen, geht eine Frau in enger schwarzer Hose zwischen uns und der vorderen Stuhlreihe vorbei. Ich merke, wie ich langsam, aber stetig die Aufmerksamkeit meines Sitznachbarn verliere. Sein Blick folgt dem Hintern der jungen Frau, er nickt bestätigend. Noch eine, die seinen Schönheitstest bestanden hat.

Hauptsache geschmacklos

Dann schreitet der zweite Kopf der Bundes-AfD auf die Bühne. In seiner Rede wird sich Tino Chrupalla über die Letzte Generation und die "Omas gegen Rechts" lustig machen und zustimmendes Gelächter aus dem Publikum ernten. Irgendwann wird er eine bedeutende Frage in den Raum werfen, die mir – wenn auch aus völlig anderem Anlass als Chrupalla – schon den ganzen Abend im Kopf herumschwirrt: "Wie geschichtsvergessen muss man eigentlich sein?" Er spielt auf die "Kriegsrhetorik" der Ampelregierung an, mir gehen eher AfD-Deportationspläne durch den Kopf.

Doch der Höhepunkt des Abends steht mir zu dem Zeitpunkt noch bevor: Stephan Brandner, AfD-Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Bundessprecher. Bekannt für das "Anekdötchen", wie er es auf X selbst nannte, aus dem Sommer 2020: Damals weigerte er sich, in einem ICE-Zug einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, löste damit einen Polizeieinsatz aus und versteckte sich daraufhin vor den Beamt:innen auf der Zugtoilette. Ebenso bekannt für sein provokatives und pöbelndes Verhalten im Bundestag. Wäre die Respektlosigkeit ein Mensch, würde sie wohl Stephan Brandner heißen. In Heilbronn tritt er in seiner gewohnten Art auf, fühlt sich mit seinem Unter-der-Gürtellinie-Humor sichtlich wohl. Die Leute feiern ihn und seine geschmacklosen Witze, etwa über Äußerlichkeiten der grünen Bundestagsabgeordneten Ricarda Lang. Klar, dass diese Worte von einem Mann kommen, der selbst nicht gerade mit einer sportlich anmutenden Figur glänzen kann, und gegen eine Frau gerichtet sind.

Beinahe platzt mir der Kopf. Und als Brandner erläutert, warum denn plötzlich so viele Menschen auf die Straße gingen und dass das natürlich an der Coronaimpfung liege und an den in ihr versteckten Chips, hilft selbst 4-7-8 nichts mehr. Aus Selbstschutz gestatte ich meinen Gedanken abzuschweifen und tagträume mich vier Stunden zurück. Auf den Parkplatz des Heilbronner Frankenstadions, die wärmende Sonne im Gesicht, umgeben von Menschen mit tatsächlich menschlichen Grundwerten und Danger Dan dröhnend aus den Musikboxen: "Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein / Man diskutiert mit ihnen nicht, hat die Geschichte gezeigt".

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3 Kommentare verfügbar

  • Peter Bähr
    am 30.03.2024
    Antworten
    "... Der Faschismus war nicht bloß die Verschwörung, die er auch war, sondern entsprang in einer mächtigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenz. Die Sprache gewährt im Asyl; in ihr äußert das fortschwelende Unheil sich so, als wäre es das Heil."
    Theodor W. Adorno, "Jargon der Eigentlichkeit",…
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