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Grünen-Bundesparteitag in Karlsruhe

Alleingelassen mit dem Klima

Grünen-Bundesparteitag in Karlsruhe: Alleingelassen mit dem Klima
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Eine Bundesdelegiertenkonferenz in Karlsruhe fürs Buch der Rekorde: 42 Stunden Beratung an vier Tagen, über 800 Delegierte. Helfen wird den Grünen so viel Fleiß und Eifer wenig.

Der schönste Satz während der Mammutveranstaltung stammt von einer Gastrednerin. "Es ist mir eine große Ehre, hier zu sprechen", sagt Svetlana Tichanowskaja, "und zu sehen, wie Demokratie gelebt wird." 2020 hat sie bei der Präsidentschaftswahl in Belarus kandidiert, nachdem ihrem Ehemann Sergej ein Antreten verboten wurde. Nach ihrem von vielen unabhängigen Beobachter:innen bestätigten, vom Alleinherrscher Lukaschenko aber geleugneten Wahlsieg floh sie nach Litauen. Zu ihrem Mann, zu 19 Jahren Haft verurteilt, hat sie seit März keinen Kontakt mehr, Gerüchte behaupten, er sei tot. Mit ihren Kindern hört sie alte Youtube-Aufnahmen, damit die seine Stimme nicht vergessen.

Im schmucklosen Saal der Karlsruher Messe ist es da ganz still. Manche Unterstützer:innen der ersten Stunde, bei denen sich die Preisträgerin des Karlspreis so warmherzig bedankt – Annalena Baerbock, Britta Haßelmann, Claudia Roth – haben Tränen in den Augen. Am Ende der Rede langer stehender Applaus. Es ist einer der gar nicht so seltenen Momente auf dieser BDK, an denen Delegierte ebenso wie die Promis an der Spitze stolz sind auf ihre Partei und auf sich selbst.

Und doch sind sie vorbei, die Hoch-Zeiten, da Robert Habeck vor der Erdkugel auf und ab gehend mit eindringlichen Reden nicht nur den Saal, sondern die Gesellschaft in Wallung versetzen konnte. Da können die Parteifreunde noch so engagiert und kenntnisreich sein, manche ungestüm, erfrischend links, andere philosophisch abgeklärt, sie können noch so intensiv um ein Europawahlprogramm mit Änderungsanträgen auf 1.600 (!) Seiten ringen, die Stimmen, die Stimmungen und die Botschaften dringen nicht mehr wirklich heraus aus der eigenen Blase. Seit der Regierungsbeteiligung im Bund ist es eben nicht mehr so wichtig für die öffentliche und die veröffentlichte Meinung, was sich tut bei den Grünen. Wichtig ist ihre Rolle beim ewigen Koalitionsknatsch. Der Abgesang an die Illusion von der Volkspartei und dem einflussreichen Vollsortimenter ist in den Leitartikeln schon gesungen.

Grünen-Bashing ist derzeit angesagt

Eigentlich sollte in Karlsruhe der 40. Geburtstag coronabedingt nachgefeiert werden. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, bekanntlich ein Gründungsgrüner, überwindet zum Auftakt am Donnerstag wenigstens für diese seine Rede den tiefsitzenden Groll gegen Fundis, Linke und Jugend und verlangt mit Blick auf die Migrationsdebatte von seiner Partei, sich selbst etwas zuzumuten. Und er erinnert an die Anfänge vor 43 Jahren, als ein paar Kilometer weiter, in der Stadthalle im Karlsruher Zentrum, der äußerst turbulente Gründungsparteitag über die Bühne ging. Der damalige Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) habe zwei Jahre später sogar ein Monatsgehalt verwettet in der irrigen Annahme, die immerhin im baden-württembergischen Landtag angekommene Partei werde dank seiner Politik wieder von der Bildfläche verschwinden.

Es gibt die Grünen weiterhin, erlebt haben sie bereits viele Aufs und Abs, aktuell sieht es wieder mal nach einem Ab aus. Die Demoskopie ist mau, der Trend geht fremd, das Megathema Klima auf dem Rückzug. Weitgehend ungenutzt verstrichen sind die Chancen, die "Menschheitsaufgabe", wie Kretschmann den Kampf gegen die Erderwärmung nennt, auf möglichst viele Schultern zu verteilen, Zeitgenoss:innen und Parteien dazu zu bringen, die Last unpopulärer Maßnahmen und Einschränkungen aus Überzeugung mitzutragen. Stattdessen sind vornehmlich die Grünen zuständig für den Schutz des Klimas, was im Verteilungskampf nach dem Schuldenbremsen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts besonders schwerwiegt.

Plötzlich sind Energie- und Mobilitätswende oder die Dekarbonisierung wieder allein Lieblingsprodukte einer Partei, die konservative Demagogie obendrein faktenwidrig an den Verbotspartei-Pranger stellen darf. Die Kampagne funktioniert: "Focus online" hat am Tag nach der Delegiertenkonferenz eine Online-Umfrage gestartet: 62 Prozent der Teilnehmenden bewerten aktuell den politischen Kurs mit "sehr negativ" und gerade noch neun Prozent mit "sehr positiv". Lange ist es noch nicht her, dass Robert Habeck als möglicher nächster Bundeskanzler im Gespräch war.

Dabei stehen noch größere Auseinandersetzungen bevor. CDU-Chef Friedrich Merz problematisiert das Klimageld, obwohl er ganz genau weiß, dass damit die anstehende höhere CO2-Bepreisung auf Heizöl, Benzin und Diesel für die Bürger:innen kompensiert werden soll. Wird daran gespart, schnellen Energiekosten in die Höhe, übrigens auch bei jenen, die sich kürzlich eine Öl- oder Gasheizung einbauen ließen, um das Gebäudeenergiegesetz der Ampel zu unterlaufen. Vermutlich wollen dann nur noch wenige Grünen-Kritiker:innen und schon gar nicht Merz selber an den gemeinsam mit "Bild" geführten Kulturkampf gegen die Wärmepumpe erinnert werden.

Attacken auf die Union gibt es reichlich in Karlsruhe. Viele Delegierte mühen sich, mit Gegenpositionen durchzudringen in der komplizierten Migrationsdebatte. Die Grüne Jugend sorgte mit leidenschaftlichen Appellen, sich am Rechtsruck in der Gesellschaft nicht zu beteiligen, für Begeisterung, doch die Granden setzten sich durch mit ihrer programmatischen Ausrichtung. Bemängelt wird, wie der Union ihr C nichts mehr wert sei im Umgang mit Menschen, die so dringend Hilfe bräuchten, wie mit falschen Zahlen niedere Instinkte geweckt würden. "Merz ist die fleischgewordene Bonner Republik", sagt ein Duisburger und beklagt, wie über 20 Jahre notwendige Veränderungen, vom Klimaschutz bis zum Einwanderungsrecht, verschlafen wurden: "Wir sind so unter Druck, weil keine andere Partei so sehr an das Veränderungsbewusstsein der Gesellschaft appellieren muss." Eine Vertreterin des Nachwuchses verlangt vehement gerade auch in Ländern gemeinsamer Regierungen mit der CDU eine ehrliche Debatte über die Schuldenbremse, angemessene Sozialausgaben und eine gute Ausstattung der Kommunen sind für sie "gelebter Antifaschismus".

Achtung: Dieses Bild ist KI-generiert und stammt nicht vom Parteitag. Screenshot: X

Das Pizza-Prinzip

Falsche Nachrichten, gefakte Fotos sind ein wachsendes Problem, auch die Grünen hat es wieder erwischt. Über soziale Medien wurde ein gefälschtes Bild verbreitet, das zig Pizzakartons und angeknabberte Pizzen zeigte, angeblich vom Grünen-Parteitag. Die Grünen sollten so als Heuchler entlarvt werden, das Ding ging viral. Dabei gäbe es wirklich wichtige Themen: In Dubai beginnt die 28. Weltklimakonferenz und dort müsste auf "Notfallmodus" geschaltet werden, sagen Klimaforscher:innen unter deutlich weniger durch die Decke gehenden Hashtags. Es müsse klar gemacht werden, dass der eingeschlagene Weg nicht mehr zum Pariser 1,5-Grad-Ziel führt. Im Bundestag hat zu Wochenbeginn sogar eine Expert:innen-Anhörung stattgefunden, in der Einzelne eine Abkehr verlangten und auf eine Erderderwärmung von zwei Grad Celsius als Ziel zugehen. Im Netz hat noch immer die Pizza Konjunktur, weil sie, wie einer trotz aller Richtigstellungen schreibt, "für die Doppelmoral, Dekadenz, Unfähigkeit und Überheblichkeit der Grünen steht". Was sollen dagegen Informationen und wahre Nachrichten über den Zustand des Weltklimas ausrichten?  (jhw)

Noch ein Gastredner, Martin Daum, Vorstandschef von Daimler Truck, wirbt sogar für aus heutiger Sicht überdimensionierte Ausgaben der öffentlichen Hand zum Wohle von Wirtschaft in Gesellschaft, in E-Ladestationen und in ein künftiges Wasserstoffnetz. Denn das Schlimmste, das Herstellern passieren könne, bestehe darin, mit ihren Produkten am Start zu sein ohne ausreichende Infrastruktur. Und er lobt den Bundeswirtschaftsminister Habeck, was mittlerweile ja selten genug vorkommt, ausdrücklich für dessen Weitsicht, denn der will ebenfalls hohe Subventionen für die heimische Industrie. Der Applaus für Daum fällt zwar deutlich geringer aus als für Svetlana Tichanowskaja, aber hinten in einer Ecke steht eine junge Truppe noch lange zusammen, um zu diskutieren, wie mit Daum sein Ziel zu erreichen sei, "so dass am Ende die beste ökologische Lösung die ökonomischste ist".

Sogar Kretschmann, Gralshüter der Schuldenbremse, verlangt, dass die öffentliche Hand mehr Geld bereitstellt, um der erwarteten Bedeutung von Wasserstoff gerecht zu werden. Und er plädiert für eine neue – es wäre die dritte – Kommission zur Reform der föderalen Strukturen in der Republik und des Verhältnisses von Bund und Ländern zueinander. Damit allerdings hat sich der, so wie es heute aussieht, auf lange Zeit einzige, grüne Regierungschef in der Republik schon auf dem Zenit der ihm aller Orten entgegengebrachten Aufmerksamkeit nicht durchgesetzt. Deshalb wird daraus jetzt erst recht nichts werden. Die Grünen spielen kaum mehr eine Rolle, wenn es um die Deutungshoheit von Themen geht. Dabei stehen sie in der Demoskopie noch immer auf 15 Prozent und in mehreren Umfragen sogar vor der SPD.


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2 Kommentare verfügbar

  • Dr. Jürgen Enseleit
    am 29.11.2023
    Antworten
    Auch auf diesem Parteitag wurden ausschliesslich Symptome diskutiert! Eine Ursachendiskussion gibt es einfach nicht!
    Wachstum und weiter so beim Konsum und Lebensstil sind die Themen, die gesichert werden müssen! Es geht ja ausschließlich nur um die Sicherung des Wohlstandes! Allerdings vergessen…
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