KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Die Grünen und ihre Struktur

Wenig Miteinander, viel Verzagtheit

Die Grünen und ihre Struktur: Wenig Miteinander, viel Verzagtheit
|

Datum:

Die Grünen sind so mächtig wie nie zuvor. Sie stellen den Vizekanzler, einen Ministerpräsidenten und in zehn der 16 Bundesländer die Stellvertreter:innen. Dass sie dennoch seit Monaten nicht durchstarten können, liegt auch an nie überwundenen Strukturschwächen.

Wälder brennen, die Nürnberger Innenstadt steht derart unter Wasser, dass nur noch Autodächer zu sehen sind, Hagelkörner wie Tennisbälle erschlagen in Bayern Störche und Katzen. Und so weiter und so fort. Niemand mit Verstand kann bestreiten, dass der menschengemachte Klimawandel vor der Deutschen Haustür angekommen ist, dass globale Realitäten selbst düstere Szenarien übertreffen. Und dass zu viel Weiter-So und zu wenig Veränderungsbereitschaft in die gewaltigen Katastrophen münden werden, vor denen der Club of Rome vor mehr als einem halben Jahrhundert zum ersten Mal gewarnt hat.

Eine einzige Partei in der Bundesrepublik Deutschland kann für sich in Anspruch nehmen, von Anbeginn ihres Daseins an "der Ausbeutung der Natur und des Menschen durch den Menschen" entgegentreten zu wollen. Das erste grüne Programm von 1980 beschreibt viele bis heute diskutierte gute Absichten: von der "ökologischen Buchhaltung", die die realen Kosten von Verhalten und Produktion berechnet, bis zur optimalen Förderung und Nutzung des jeweils die Umwelt am wenigsten belastenden Verkehrsmittels. Aber Weitsicht ist kein Erfolgsgarant.

Dabei kommen zur breiten Verankerung in den Regierungen von Bund und Ländern und auch in sehr vielen Kommunen 126.000 Mitglieder hinzu, davon mehr als 15.000 in Baden-Württemberg. Von deren Durchschnittsalter (48 Jahre) kann die Konkurrenz nur träumen, beispielsweise die CDU des Friedrich Merz mit 61. Angesichts der vielen Hiobsbotschaften aus allen Ecken dieser Welt könnten respektive müssten diese Mitglieder unentwegt und mit Aussicht auf Gehör trommeln und für die Einsicht werben, dass im Kampf gegen die Erderwärmung endlich wirklich mehr geleistet werden muss. Stattdessen: viel Klein-Klein und die aufreibenden Fingerhakeleien nicht nur mit einem Christian Lindner (FDP), sondern längst in den eigenen Reihen, und dazu diese geradezu kleinmütige Verunsicherung.

Vom Grünen Schwarz kommen nur Formeln

Ein Praxistest findet am vergangenen Montagvormittag in einer Stuttgarter Event-Location statt. Die beiden Chefs der Regierungsfraktionen im baden-württembergischen Landtag, Andreas Schwarz (Grüne) und Manuel Hagel (CDU), haben zu ihrer Halbzeitbilanz der Legislaturperiode geladen. Schwarz, der lange Kerl mit der Leidenschaft für Rennradfahren und formelhafte Sprache, lobt die Zusammenarbeit und das Tempo ("Wir haben Baden-Württemberg vorangebracht"). Er wagt einen Ausblick auf das Land im Jahr 2030, sagt aber von sich aus nichts Lobendes über seine Abgeordneten, die Minister:innen oder die Parteispitze und schon gar nichts dazu, dass der Vorsitzendenkollege Hagel gerade versucht, in der Kretschmann-Nachfolge-Debatte Nägel mit Köpfen zu mache. Per Interview hat der künftige starke Mann der Südwest-CDU in den vergangenen Wochen mitgeteilt, dass seine Fraktion einen fliegenden Wechsel von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zu wem auch immer während der Legislaturperiode doch nicht mittragen wird. Es sei "keine Option", lautete die Botschaft, einen neuen Regierungschef aus den Reihen der Grünen "aus Gründen des reinen grünen Machterhalts" im Landtag mitzuwählen. Andreas Schwarz ist nicht einmal bereit, mit diesem einen zentralen Satz aus dem Koalitionsvertrag gegenzuhalten: "Bündnis 90/Die Grünen stellen den Ministerpräsidenten."

Und in noch einem Zusammenhang hat Hagel die Nase strategisch vorn. Er nutzt die Gelegenheit, um die Rolle seiner CDU in den vergangenen zweieinhalb Jahren vor den anwesenden Medienvertreter:innen als "immer selbstbewusst, aber nie überheblich" herauszustreichen, bedankt sich geradezu staatstragend beim Koalitionspartner. Zugleich gehört nicht viel Phantasie dazu sich vorzustellen, wie der 35-Jährige agieren würde, hätten – bei umgekehrten Machtverhältnissen – die Grünen sich derart in die Nachfolgefrage eingemischt. Bis in Ortsverbände über die sozialen Medien, durch die schwarzen Abgeordneten am Wochenende vor Ort, durch die Landesspitze in Interviews und Statements wäre dem (Partei-)Volk hurtig und mit Nachdruck beigebracht worden, dies sei nichts anderes als Verrat.

Beim Heizungsgesetz hilft auch Kretschmann nicht

Im Land geht es – noch – vor allem um die in der Zukunft liegende Personalie Kretschmann-Nachfolge. Im Bund und insgesamt für die Zustimmung zur Partei geht es aber um versemmelte fünf Monate im Kampf gegen die Erderwärmung. Wie stünden die Grünen da, hätten sich im vergangenen halben Jahr ausreichend viele hinter den Klimaschutz-Ambitionen im Gebäudesektor versammelt in gemeinsamer Kraftanstrengung? Die Pläne von Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bauministerin Klara Geywitz (SPD) wurden am 19. April in Berlin offiziell präsentiert. Da war die erste Verunglimpfung als "Habecks Heizungshammer" ("Bild") schon gut sechs Wochen alt. Aber ganz offensichtlich sah sich niemand aufgerufen, eine offensive Info-Gegenkampagne ins Werk zu setzen.

Dabei zeigt ein Blick auf die Berichterstattung in den Stunden und Tagen nach der Bundespressekonferenz, wie Gegenhalten noch möglich gewesen wäre. Die Bundesgeschäftsstelle hätte schnell gemeinsam mit den Landesgeschäftsstellen aktiv werden müssen, noch ehe die vielen, die den Grünen schon immer eins auswischen wollten innerhalb und außerhalb der Ampel, die klick- und quotenträchtige Empörungswindmaschine anwarfen. Denn die ersten Meldungen in den Internetauftritten der öffentlich-rechtlichen Sender und in vielen seriösen Tageszeitungen teilten ganz unaufgeregt mit, dass funktionierende Heizungen keineswegs ausgetauscht werden müssen, dass sich der Austausch insgesamt nach der Einschätzung von Fachleuten bis 2044 hinziehen wird, oder dass es Härtefallregelungen und Klimaboni bei Übererfüllung der verlangten 65 Prozent Erneuerbare Wärme geben soll.

Der baden-württembergische Ministerpräsident hätte eine zentrale Rolle übernehmen können. Inhaltlich, weil im Südwesten die CDU-Umweltministerin Tanja Gönner Vorreiterin war und 2008 als erste bundesweit eine Zwangsquote für erneuerbare Wärme beim Heizen einführte. Aber auch strategisch, weil Kretschmann der beliebteste und der bekannteste ist unter den 16 deutschen Regierungschefs und seine dritte Amtszeit vor allem auch dazu verwenden wollte, unangenehme Botschaften an Mann und Frau zu bringen. Tatsächlich aber stolpert er bereitwillig in die Falle, die Geschichte vom Dauerstreit in der Ampel mitzuerzählen: "Wenn wir in Baden-Württemberg so miteinander umgingen, würde das meine Koalition nicht länger als sechs Wochen aushalten." Und anstatt den Steilpass nach vorn zu schlagen zum gemeinsamen Wohle und dem der Berliner Regierungsgrünen, schmollt er lieber: In der Hauptstadt werde viel zu selten auf seinen Ratschlag gehört und der baden-württembergische Kurs kopiert. Fremdeln statt Schulterschluss, Bestehen auf der sogenannten Beinfreiheit statt Solidarität.

Zu viel Basis, zu wenig interne Kooperation

Diese Unordnung untereinander hat mit einem für Union, SPD oder FDP unvorstellbar großen Abstand zwischen Partei und Abgeordneten zu tun, zwischen Partei und Regierungsmitgliedern, der aber in der inzwischen 44-jährigen Geschichte der Partei dringend erwünscht war. Baden-Württembergs schwarze Ministerpräsidenten waren selbstverständlich immer zugleich Landesvorsitzende der CDU, und sie besaßen Gewicht in der Bundesspitze. Die Grünen dagegen erlaubten überhaupt erst 2003 per Basisentscheid, dass ein Drittel der Mitglieder des Bundesvorstandes parallel ein einfaches Abgeordnetenmandat haben darf. Und Habeck wurde 2018 nur ausnahmsweise der Weg an die Spitze der Partei eröffnet, wiewohl er für eine Übergangszeit noch Minister in Schleswig-Holstein blieb.

Schwer wiegt auch die zweite Altlast, eine in der breiten Öffentlichkeit wenig beachtete, allzu halbherzige Änderung der Parteisatzung, die viel Kraft und Arbeitszeit bindet. Zwecks Verschlankung von Antragsdebatten wollte die damalige Parteiführung vor der Bundestagswahl 2021 die Quoren erhöhen, um Anträge zu stellen: Für einen Antrag oder einen Änderungsantrag sollten sich 120 Unterstützende zusammenfinden müssen anstelle von 20 wie seit Gründungstagen. Außerdem sollten statt Orts- erst Kreismitgliederversammlungen Anträge stellen dürfen. Immerhin waren im Vorfeld des Bundesparteitags 3.300 Änderungsanträge eingegangen, die gesichtet und bearbeitet, auf Parallelen untersucht werden mussten, um gegebenenfalls komplizierte Kompromisse zu verhandeln. Habeck wünschte sich, dass die Partei erwachsen werde, seine Co-Vorsitzende Annalena Baerbock sprach sogar von einer Schein- statt einer Basisdemokratie ob der ausufernden Flut von Anträgen, die viele Debatten tatsächlich verwässern. Nun dürfen mindestens 50 Mitglieder einen Antrag stellen. "Wir stehen vor einer Regierungszeit", appellierte die heutige Bundesaußenministerin, "und müssen regierungsfähig sein." Die Partei werde ihrer Einzigartigkeit beraubt, hielt ihr einer der – schlussendlich erfolgreichen – Delegierten entgegen.

In Baden-Württemberg sind seit zwölf Jahren vor allem die Sonnenseiten dieser Einzigartigkeit zu bewundern: ein anerkannter Ministerpräsident und eine stabile Koalition. Über dem Bund stehen, ausweislich der Demoskopie, dunkle Wolken. Vielleicht ist es sympathisch, sich in einem Katastrophensommer wie diesem nicht auf Knopfdruck durchzuorganisieren, um mit griffigen Botschaften in die Offensive zu kommen – trotz des individuellen Leids von Muren-, Bergsturz- oder Überschwemmungsopfern. Oder Internetauftritte auf den unteren Ebenen der Partei hinzulegen, die eher an "Zimmer frei in unserer WG" erinnern. Krisenzeiten verlangen aber dringend nach einem schlagkräftigen Apparat, der auf Stimmungen zu reagieren weiß, der Unfug laut Unfug nennt. Und nach einem Führungspersonal, das einen Weg findet, eigene Stärken offensiv herauszustreichen, so dass sie kleben bleiben.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


2 Kommentare verfügbar

  • Philippe Ressing
    am 06.09.2023
    Antworten
    Die Grünen sind mittlerweile eine klassische Partei: Die Politik bestimmt das ZK, äh, der Mischterpräsident oder die Senatorin - von Hamburg bis Stuttgart. Die Nomenklatur regiert - wie bei den anderen Parteien. Angst hat sie vor Basis-Bewegungen, siehe Autobahn- oder Garzweiler in Hessen und NRW…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!