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S-21-Brandschutz vor Gericht

Schutz von Leib und Leben geschleift

S-21-Brandschutz vor Gericht: Schutz von Leib und Leben geschleift
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Vor dem Verwaltungsgerichtshof in Mannheim sind zwei Klagen gegen die Planfeststellung der Stuttgart-21-Tunnel gescheitert. Die Kläger wollten erreichen, dass die aus ihrer Sicht gravierenden Brandschutzmängel beseitigt werden.

Es war die größte Katastrophe, die sich in Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg ereignete: Beim Brand der Kapruner Gletscherbahn starben innerhalb weniger Minuten 155 Menschen. Auf der Fahrt zur Bergstation war am 11. November 2000 ein Zug brennend im Tunnel zum Stehen gekommen. Viele Opfer kamen noch in den Waggons ums Leben, weil sich die Türen nicht öffnen ließen. Die Fahrgäste, die sich befreien konnten, erstickten in einer tödlichen Rauchgaswolke, die sie auf ihrem Fluchtweg nach oben einholte. Nur zwölf Personen überlebten, weil sie im Tunnel entgegen der Kaminwirkung nach unten liefen.

Eine vergleichbare Katastrophe droht, wenn ein ICE oder Regionalexpress in einem der Tunnel des Milliardenprojekts Stuttgart 21 (S 21) in Flammen gerät, befürchtet Dieter Reicherter. Der ehemalige Strafrichter geht davon aus, dass der gleiche Kamineffekt wie in Kaprun insbesondere den rund 9,5 Kilometer langen Fildertunnel zur Todesfalle macht. In der engen Tunnelröhre würden sich die giftigen Rauchgase schneller ausbreiten, als Reisende und Zugpersonal flüchten können. Zusammen mit der Schutzgemeinschaft (SG) Filder sowie zwei weiteren Privatpersonen, darunter einem Rollstuhlfahrer, reichte er deshalb beim baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Mannheim Klage gegen die Planfeststellung der S-21-Tunnelabschnitte durch das Eisenbahnbundesamt (Eba) ein.

Doch zur gerichtlichen Klärung, ob das Brandschutz- und Entrauchungskonzept der Deutschen Bahn für Stuttgart 21 versagt, kommt es nicht. Nach der mündlichen Verhandlung am Tag zuvor lehnte das höchste Verwaltungsgericht des Landes am vergangenen Mittwoch, dem 22. November, – fast genau 23 Jahre nach der Brandkatastrophe von Kaprun – die Klage als unzulässig ab. Auch eine weitere Klage der SG Filder gegen die jüngste Änderung des Planfeststellungsbeschlusses für den Fildertunnel beschied der 5. VGH-Senat als unzulässig. In beiden Fällen ließen die Richter keine Revision zu.

Brandschutz-Pfusch brachte schon den BER ins Wanken

Dabei war das Ziel der beiden Klagen alles andere als verwerflich. Im Namen des Volkes sollte die Deutsche Bahn die inzwischen fast fertiggestellten Tunnel so nachrüsten, dass im Brandfall keine Personen zu Schaden kommen. Falls erforderlich auch durch den nachträglichen Vortrieb eines zusätzlichen Fluchtstollens. Falls die sichere Evakuierung nicht möglich ist, sollte das Eba die Baugenehmigung rückwirkend kassieren – was das Tiefbahnhofprojekt zur Bauruine machen würde. Allerdings wäre es nicht das erste Mal, dass Pfusch beim Brandschutz ein Großprojekt ins Wanken bringt. Entsprechende Mängel führten beim Berliner Hauptstadtflughafens BER zu jahrelangen Verzögerungen, erst nach milliardenschweren Nachbesserungen konnte der Pannenflughafen 2020 in Betrieb gehen.

In Stuttgart vertraute das Eisenbahnbundesamt auf Angaben der Deutschen Bahn, wonach die Tunnelbauwerke alle geforderten Sicherheitsvorgaben erfüllten. Die Bauherrin untermauerte dies in 2014 unter anderem mit einer Entfluchtungssimulation, an deren Existenz es zuletzt erhebliche Zweifel gab (Kontext berichtete).

Demnach könnten sich selbst beim Vollbrand eines liegengebliebenen ICE im Fildertunnel alle bis zu 1.757 Passagiere innerhalb von elf Minuten selbst in Sicherheit bringen. Völlig unrealistisch, sagen dagegen die "Ingenieure 22", die auch von Dieter Reicherter unterstützt werden. Seit Jahren warnt die projektkritische Gruppe vor unbeherrschbaren Brandrisiken im S-21-Tunnelsystem. Freilich bislang vergeblich: Beim Eisenbahnbundesamt (Eba) stößt ihr Ansinnen, die Bauherrin auch nach erfolgter Baufreigabe zu mehr Sicherheit im 60 Kilometer langen Tunnelsystem unter der Landeshauptstadt zu verpflichten, bis heute auf taube Ohren.

2018: ICE-Evakuierung dauert – sogar auf freier Strecke

Beispielhaft verweisen die Ingenieure 22 auf den Brand des ICE 511. Der Zug war am 12. Oktober 2018 brennend auf freier Strecke bei Montabaur zum Halten gekommen. Mehr als eine halbe Stunde zog sich die Evakuierung der 510 Reisenden aus den Waggons über den Bahndamm hin. Laut Aussagen der Rettungskräfte sorgte nur "viel Glück im Unglück" dafür, dass nur fünf Leichtverletzte zu beklagen waren (Kontext berichtete hier und hier).

Im Fildertunnel müssen sich die Reisenden jedoch selbst, ohne Hilfe von Feuerwehrleuten in Sicherheit bringen. Der Rettungsweg gleicht dabei einem Hindernisparcours: Beim Ausstieg aus dem Zug in die Tunnelröhre müssen Flüchtende einen Höhenunterschied von knapp einem Meter überwinden, anschließend bis zu 480 Meter zu Fuß auf schmalem Steg entlang der Tunnelwand bis zu einem Querschlag zurücklegen und durch diesen in die benachbarte Tunnelröhre wechseln (die Türen des Querschlags werden erst nach Sperrung der Gegenstrecke freigegeben). Dass die Selbstrettung von mehreren Hundert Reisenden im Fildertunnel trotz enormer Rauch- und Hitzeentwicklung, räumlicher Enge und spärlicher Beleuchtung wesentlich schneller vonstatten gehen soll als die von Rettungskräften unterstützte Evakuierung eines ICE auf freier Strecke, ist allerdings kaum vorstellbar. Wie Gehbehinderte oder Rollstuhlfahrer sich im Tunnel in Sicherheit bringen, darauf gab es im Genehmigungsverfahren keine plausiblen Antworten. Für die Kläger war dies alles Anlass genug, gegen die bestandskräftigen Planfeststellungen juristisch vorzugehen.

Laut Gericht genügt der Gesetzgeber seiner Pflicht

Noch liegen die Begründungen zu den Urteilen des 5. Senats des Verwaltungsgerichtshofs nicht vor. In den mündlichen Verhandlungen hatte sich jedoch abgezeichnet, dass die Richter des VGH weder die SG Filder noch die Einzelkläger als klagebefugt ansehen. Bereits in einem vorangegangenen Verfahren hatte der 5. Senat im September 2020 so geurteilt. Damals hatte ein Einzelkläger das Brandschutz- und Entrauchungskonzept für den Tiefbahnhof von Stuttgart 21 moniert. Aus Sicht des Gerichts entfaltet das Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG) keine sogenannte "drittschützende Wirkung", was bedeutet: Einzelpersonen stehe keine Klagebefugnis hinsichtlich der Ausgestaltung des Brandschutzes zu.

Der Senat begründete damals sein Urteil mit Verweis auf Paragraf 18, Absatz 1, Satz 2 AEG: Durch das darin enthaltene Gebot, den allgemeinen Belang des Brandschutzes abzuwägen, genüge der Gesetzgeber mit Blick auf die Gefahren eines Brandes auch seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit. Laut entsprechender Gesetze und Regelwerke ist Eisenbahninfrastruktur so zu bauen und betreiben, dass die Allgemeinheit und öffentliche Sicherheit nicht gefährdet ist. Dadurch werde das sicherheitsspezifische Verlangen der Einzelkläger bereits berücksichtigt, weswegen sie auch keine zusätzliche Klagebefugnis hätten. Dies betonten die Richter auch jetzt in der mündlichen Verhandlung.

Weitergehende Klagebefugnisse haben zwar Umweltverbände, doch bei der Verhandlung am 21. November sahen die Richter bei der SG Filder die Klagebefugnis nicht durch deren Satzung gedeckt. In dieser sei lediglich von einer Bewahrung der Filderregion als Lebensraum die Rede, was technische Brandschutzeinrichtungen nicht einschließe. Zudem sei der Wirkungsbereich des Vereins laut Satzung auf den Bereich der Filder beschränkt. Die wesentlichen Vorgänge in der beanstandeten Planfeststellungsänderung seien aber im Bereich des Stadtgebiets Stuttgart planerisch vorgenommen worden.

Analog argumentierte in den mündlichen Verhandlungen auch der Rechtsbeistand der beigeladenen Deutschen Bahn Netz AG. Die jüngst geänderte Planfeststellung des Fildertunnels sei aus rein technischen Gründen erfolgt. Da diese keine umweltrelevanten Rechtsvorschriften tangierten, könne die SG Filder auch nicht dagegen klagen.

Die Änderung hatte die Deutsche Bahn beantragt, um die Entrauchungstechnik umzustellen. So sollen der Fildertunnel wie auch der Neckartunnel nach Ober- und Untertürkheim im Brandfall mit Zuluft aus dem "Schwallbauwerk" am Südkopf der Tiefbahnhofs belüftet und dabei der Rauch zu den Tunnelausgängen auf den Fildern beziehungsweise im Neckartal abgedrängt werden. Bei Brand in der Bahnhofshalle soll die Zuluft dorthin gelenkt werden. Dazu werden im Schwallbauwerk sogenannte Saccardo-Düsen, die vor allem in Autotunneln häufig verwendet werden, installiert, die die Luft unter hohem Druck in die Tunnelröhren blasen.

Planänderung zeigt: Altes Konzept war untauglich

In den ursprünglichen Plänen waren noch Tunneltore vorgesehen, die bei Bedarf die Tunnel verschließen sollten. "Eine abenteuerliche Vorstellung; solche Tunneltore gibt es sonst nirgends", kritisierten 2015 die Ingenieure 22.

Das Eisenbahnbundesamt segnete das damalige Entrauchungskonzept im März 2015 mit der Auflage ab, dass der "Nachweis für die Erreichung der festgelegten Schutzziele" noch erbracht wird. Dies gelang der Bauherrin in zentralen Punkten offenbar nicht. Und deshalb plante die Deutsche Bahn um, vermuten die Ingenieure 22. Die sieben Rauchsperrtore, vier in den Tunneln selbst und drei in den Rettungszufahrten, fielen weg. "Eine Einrichtung, die den Tunnel zumacht, ist am Ende des Tages nicht die allerbeste Lösung", bemerkte der Rechtsbeistand der DB Netz AG jetzt vor dem VGH in Mannheim – und bestätigte damit den Vorwurf der Projektkritiker, dass die Deutsche Bahn Behörden, Projektpartnern und der Öffentlichkeit über Jahre ein untaugliches Sicherheitskonzept als Stein der Weisen verkauft hatte. In den jetzt abgewiesenen Klagen hatten die Kläger bezweifelt, dass auch das nun vorgesehene Entrauchungssystem mit Saccardo-Düsen tatsächlich funktioniert.

Auf die Urteile des VGH reagiert das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 empört: "Indem sich das Gericht die komplizierte Sache leicht machte und den Klagenden schlichtweg die Klagebefugnis verweigerte, verstellt es den Weg einer rechtsstaatlichen Klärung der schwerwiegenden Vorwürfe wegen lebensgefährdende Mängel beim Brandschutz." Auch Dieter Reicherter übt heftige Kritik: "Damit verletzen die beteiligten Behörden ihre Pflichten zur sorgfältigen Prüfung der Unterlagen und Abwägung der Grundrechte auf Leben und Gesundheit." Es beeindrucke das Gericht offenbar auch nicht, dass der an den Rollstuhl gefesselte Kläger im Brandfall hilflos sei. "Die mündliche Verhandlung geriet damit zur Farce", kommentierte dieser. Man prüfe nun den Gang zum Bundesverfassungsgericht, so die unterlegenen Kläger, um den grundrechtlich verbrieften Schutz von Leib und Leben in den Tunnel von Stuttgart 21 Geltung zu verschaffen.


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4 Kommentare verfügbar

  • Notter
    am 29.11.2023
    Antworten
    Der Protest hat verloren und ergibt keinen Sinn mehr.

    Ich habe erst 2013 nach den Erörterungen und dem Urteil für die Weiterfinanzierung begriffen, dass der weitere Kampf für den Kopfbahnhof chancenlos ist, in Wirklichkeit war der Kampf aber schon direkt nach dem schwarzen Donnerstag verloren,…
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