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Gemeinderat Stuttgart

Die Brezeltasten-Scheindebatte

Gemeinderat Stuttgart: Die Brezeltasten-Scheindebatte
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Datum:

Wichtige Themen im Stuttgarter Gemeinderat: Der Baubürgermeister für die nächsten acht Jahre stand zur Wahl und es ging um das Stöckach-Areal. Größten Raum nahm allerdings ein hitziger Streit um die Parkgebühren in der Stadt ein, den ein AfD-Mann nutzte, um übers Gendern zu lästern.

"Hallo, die Herrschaften", grüßt Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) den Stuttgarter Gemeinderat kopfnickend, während er sich dynamischen Schrittes durch die Reihen des Gremiums schiebt und schließlich in der Bürgermeisterriege Platz nimmt. Dort bleibt ein Sitz vorerst frei, denn als erster Punkt auf der Tagesordnung geht es um die Wahl des Baubürgermeisters oder, in korrektem Amtsdeutsch: des Beigeordneten für das Referat Städtebau, Wohnen und Umwelt. Einziger Kandidat ist Amtsinhaber Peter Pätzold von den Grünen, der draußen wartet und hereingerufen wird, um seine Agenda für die nächsten acht Jahre vorzustellen. "Können wir nicht einfach abstimmen?", fragt Stadtrat Hannes Rockenbauch (SÖS), nur wenig bemüht, dabei nicht genervt zu klingen. Nein, entgegnet Nopper. Man habe sich darauf verständigt, dass Herrn Pätzold zehn Minuten zur Verfügung stehen.

Die nutzt der Benannte, um sich und Stuttgart über den grünen Klee zu loben. Seine Themen habe er angepackt und umgesetzt, dabei Maßstäbe gesetzt und dafür sogar den "Leitstern Energieeffizienz", einen Preis des Landes Baden-Württemberg, eingeheimst. Jetzt gehe es darum, die nachhaltige Transformation der Stadt noch weiter voranzutreiben und dabei "widerstandsfähig" zu bleiben.

Natürlich ist Pätzold auch der bezahlbare Wohnraum wichtig (von dem unter seiner bisherigen Ägide recht wenig entstand). Entscheidend ist aber, dass er das Rosenstein-Quartier jetzt so schnell wie nur möglich bebauen will, eine der wenigen großen Entwicklungsflächen in der Stadt. Aktuell stören dort noch Bahngleise, die im Zuge von Stuttgart 21 überflüssig werden sollen, wobei nicht wirklich klar ist, ob sie tatsächlich entbehrlich sind. Auch das Stöckach- und das Eiermann-Areal, sagt Pätzold, könne er sich vorstellen, "vielleicht als städtische Flächen" zu entwickeln. Beide Gebiete gehören aktuell nicht der Stadt und ursprünglich war angedacht, sie gemeinsam mit der Privatwirtschaft umzugestalten – bis die gegenwärtige Krise der Bauwirtschaft die Rentabilität so stark beeinträchtigte, dass die Stadtentwicklung vorerst pausiert.

Vermaledeite Mauereidechsen

Auch auf den Artenschutz kommt der Grüne zu sprechen und charakterisiert ihn als wichtig. Aber nicht bei allen Arten, halt nur den ernsthaft bedrohten. Weniger Entgegenkommen hat nach Pätzolds Einschätzung die Mauereidechse verdient. Dazu noch einmal das Stichwort S 21: Allein im Zuge des Großprojekts hat die Bahn bislang 34 Millionen Euro ausgeben müssen, um knapp 9.000 Eidechsen umzusiedeln. Auch eine Wohnbebauung am Nordbahnhof hat Ersatzhabitate notwendig gemacht – dafür wurden 106 Bäume gefällt.

Im Fall, auf den Pätzolds Rede rekurriert, mussten Pächter:innen ihre Kleingärten aufgeben, damit an selber Stelle Ausgleichsflächen für die kleinen Reptilien geschaffen werden konnten. So viel Rücksicht, meint Plätzold, sei nicht vermittelbar, und die echsenkritischen Aussagen bringen ihm Szenenapplaus aus dem konservativen Lager ein. Ansonsten bleiben die Stadträt:innen ziemlich still während der Rede. "Eine Punktlandung", freut sich dann aber Frank Nopper am Ende. Er hat die Stoppuhr mitlaufen lassen – das tut er leidenschaftlich gerne, wenn Redezeiten festgelegt worden sind – und verkündet: "Neun Minuten, 53 Sekunden." Davon ist er so begeistert, dass er es noch einmal wiederholt: "Neun Minuten und 53 Sekunden, vor-bild-lich."

Die Abstimmung fällt dann überraschend eng aus. Pätzold brauchte für seine Wiederwahl mindestens 31 von 60 Stimmen – und kommt auf 32, bei 27 Gegenstimmen und einer Enthaltung. Konsternierte Gesichter und nervöses Getuschel bei den Grünen, die mit 16 Sitzen die größte Fraktion im Gremium bilden. Wer für oder gegen ihren Kandidaten stimmte, ist unklar, weil die Wahl geheim ablief. Allerdings war es deutlich knapper als 2015. Damals erhielt Pätzold noch 37 Stimmen von 58 Stadträt:innen.

Redet einer, wollen alle

Die Fraktionsvorsitzenden gratulieren, Nopper überreicht einen Blumenstrauß, Pätzold nimmt die Wahl an. Dann dreht der Oberbürgermeister den Turbo auf: Die Tagesordnungspunkte 2 bis 17 werden in wenigen Minuten abgehandelt. Nopper im Stakkato-Stil mit wenigen Atempausen: "Ich rufe auf: Tagesordnungspunkt 6, private Möblierung im öffentlichen Straßenraum in Stuttgart, dazu die Sitzungsunterlage 773/2022, wer kann sich dafür aussprechen? … Wer dagegen? … Enthaltungen? … dann nehmen wir Einstimmigkeit zu Protokoll. Ich rufe auf: Tagesordnungspunkt 7 ..." Die inhaltlichen Beratungen finden in Fachausschüssen statt, nicht im Gemeinderat und zur Aussprache kommt es nur, wenn die – nicht besonders zahlreich vertretene – Öffentlichkeit beeindruckt werden soll. Das dauert bis zum Tagesordnungspunkt 18, der ein hochemotionales Thema tangiert: die städtischen Parkgebühren.

Ursprünglich wollte nur Stadtrat Christoph Ozasek begründen, warum sich die Puls-Fraktion enthalten wird: Sie findet die neuen Gebühren okay (zehn Prozent Aufschlag in der Stadt, in der Innenstadt 20). Aber sie bedauert, dass außerhalb der Innenstadt an der Brötchentaste festgehalten wird – also der Möglichkeit, 30 Minuten lang kostenlos zu parken, um sich beispielsweise ein Brötchen beim Bäcker zu kaufen, eine Zigarette zu rauchen, das Brötchen zu essen, sich noch ein Brötchen zu kaufen und noch eine Zigarette zu rauchen. Laut Ozasek sei solch eine Option sicher kein Anreiz, auf das Automobil zu verzichten.

Nun wollen alle etwas sagen und es entflammt eine hitzige Grundsatzdebatte. Alexander Kotz, Fraktionsvorsitzender der CDU, rechtfertigt die Gebührenerhöhung: "Wenn alles teurer wird, ist nur logisch, dass die Stadt auch ihre Preise anheben muss." Das erzürnt Konrad Zaiß von den Freien Wählern: Kaum hätten Gewerkschaften Lohnerhöhungen in der Größenordnung von zehn Prozent durchgesetzt, denke der Staat schon darüber nach, wie er den Bürgern genau diese zehn Prozent "wieder abschröpfen kann". Wenn jetzt auch noch die Brötchentaste entfallen sollte, befürchtet er, dass diese Regulierungswut die Stuttgarter Außenbezirke ausbluten ließe, weil die Autofahrer dann zu Bäckern in Nachbargemeinden ausweichen würden. Er ist gegen die neue Gebührenerhöhung, genau wie die FDP, die meint, man könne der Bevölkerung bei so viel Inflation nicht noch mehr zumuten.

Außerhalb des Gemeinderats äußerte auch die Junge Union Stuttgart kritisch. "Soziales Feingefühl sieht anders aus", kommentiert der Kreisvorsitzende Leonard Rzymann gegenüber "StuggiTV" – und gibt dort das Bonmot zum Besten, dass sich nicht jeder einen Umstieg auf den ÖPNV leisten könne. Oberbürgermeister Nopper bringt indessen in der Sitzung einen zusätzlichen Aspekt in die Debatte ein: Er ist der Auffassung, dass man in Stuttgart lieber von einer "Brezeltaste" denn von einer Brötchentaste reden sollte, die im Übrigen in der aktuellen Beschlussvorlage gar nicht zur Disposition stehe. Und dann schafft es ein AfD-Mann irgendwie in der Diskussion über Parkgebühren auf das Gendern zu sprechen zu kommen, von dem er – Riesenüberraschung – überhaupt nichts hält.

Ausgabe 635, 31.05.2023

Neuer Stöckach, altes Spiel

Von Minh Schredle

Im Stuttgarter Osten sollte ein Viertel mit viel Grün und wenig Autos entstehen. Das Projekt klang vielversprechend. Doch es wurde zum Exempel, wie investorenorientierte Stadtentwicklung scheitert, sobald sich das Geschäft nicht mehr rechnet.

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Stöckach: Bebauungsplan ruht

Zuletzt verhandelte der Gemeinderat über einen Antrag zum Stöckach-Areal: Auf 4,2 Hektar sollte hier ein neues urbanes Quartier entstehen, vorangetrieben von der EnBW, der die Flächen gehören. Dem Energieunternehmen ist das Projekt aber aktuell zu teuer geworden, daher ist unklar, wann sich hier etwas tut. Die Stadt überlegt, die Grundstücke zu kaufen – und Stadtrat Rockenbauch, Vorsitzender der FrAktion, sprach sich dafür aus, den Bebauungsplan für das Areal ebenfalls auf Eis zu legen. Noch handelt es sich bei dem Gebiet um Gewerbeflächen. Würde hier Wohnen ermöglicht, ginge das mit einer deutlichen Wertsteigerung einher, und Rockenbauch meint, dieser Planungsgewinn solle nicht der EnBW überlassen werden. Die SPD-Stadträtin Lucia Schanbacher sieht das ähnlich und nennt es "ein Trauerspiel, wie hier ein Quartier im Herzen der Stadt verwahrlost". SPD und FrAktion hatten vor Jahren einen Antrag gestellt, das Gebiet in städtischer Eigenregie zu entwicklen, leider habe sich dafür keine Mehrheit gefunden, sagt Schanbacher.

Das Anliegen, den Bebauungsplan zu stoppen und das Stöckach-Areal zu kaufen, wurde auch von der PULS-Fraktionsgemeinschaft unterstützt. Allerdings hatte sich die Abstimmung über den entsprechenden Antrag nach Ansicht von Oberbürgermeister Nopper ohnehin erledigt. Denn, wie sein Kollege Pätzold ausführte, würden bereits Verhandlungen mit der EnBW laufen, die Stadt habe ihr Kaufinteresse artikuliert und "der Bebauungsplan wird aktuell nicht weitergeführt". Damit war das Thema dann ohne Abstimmung auch erledigt und der öffentliche Teil der Sitzung vorbei.


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1 Kommentar verfügbar

  • bedellus
    am 29.06.2023
    Antworten
    wenn das so weiter geht, ist es irgendwann demokratiefeindlich, ueber die real existierende auspraegung eben dieser zu berichten...

    trotzdem: vorerst danke!
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