Vor 100 Jahren wurden weltweit beachtete Wohnprojekte in Stuttgart mit einer Geschwindigkeit verwirklicht, die eine:n im Vergleich zur Gegenwart etwas ungläubig zurücklässt. Nach nur 21 Wochen Bauzeit konnte die Weißenhofsiedlung auf dem Killesberg bezogen werden. Das Gebäudeensemble, das als bedeutender Impulsgeber für moderne Architektur gilt, zeichnet sich durch eine radikale Zweckmäßigkeit aus: Unter Verzicht auf Ornamente war der pragmatische Minimalismus ein Mittel, gegen die Wohnungsnot vorzugehen, die auch 1927 für Probleme in der Stadt sorgte.

Teile der Weißenhofsiedlung, hier im Jahr 2004, sind heute Weltkulturerbe. Luftbild: CC BY-SA 3.0, Link
Allerdings waren die Bauten nicht nur kostengünstig. Es sollte zugleich die "Abkehr von althergebrachten Wohnformen" in Beton gegossen werden, um ein "zeitgemäßes Wohnen für den berufstätigen, mobilen, gesundheitsbewussten Großstadtmenschen" zu ermöglichen. So ist es auf der Website zur Internationalen Bauausstellung 2027 (IBA '27) nachzulesen, wo die Weißenhofsiedlung als Vorbild dient, um erneut die Frage aufzuwerfen, ob es "wieder radikale Veränderungen bisheriger Wohntypologien, Mobilitätsansprüche und Infrastrukturüberlegungen" braucht. Eine ganze Reihe an experimentellen Projekten im Großraum Stuttgart soll dabei Fachwissen und Kompetenzen aus aller Welt zusammenführen – doch anders als vor einem Jahrhundert geht die Umsetzung zumindest in der Landeshauptstadt selbst extrem schleppend voran.
Anfangs nahm es IBA-Intendant Andreas Hofer mit süffisanter Gelassenheit. Als etwa der IBA-Aufsichtsrat 2020 die Entwicklung eines Quartiers am Nordbahnhof in die Ausstellung aufnahm, war noch nicht bekannt, dass die Stadt dort eine Übergangsspielstätte errichten will, weil die Oper in der Innenstadt aufwändig saniert werden soll. Das Interimsgebäude wird aber nach Planungen erst ein gutes Jahr nach der IBA fertig. "Vielleicht ist aber eine große Holzbaustelle auch ein attraktives Exponat", kommentierte Hofer im Mai 2022 gegenüber Kontext. Inzwischen ist der Tonfall deutlicher: "Die interessierte Öffentlichkeit und die Trägerschaft der IBA '27 fragen besorgt, ob das Ausstellungsjahr 2027 noch ein Erfolg werden kann – und die IBA nicht nur Pläne, sondern auch gebaute Projekte zeigen kann", schrieb er kürzlich mit der IBA-Geschäftsführerin Karin Lang in einem offenen Brief. Hintergrund ist die Krise der Bauwirtschaft, akuter Auslöser für den Brief der Verlust eines Aushängeschilds für die Ausstellung.
Hübsche Pläne, eigentlich
Zwischen zwei Parks im Stuttgarter Osten hat der Energieversorger EnBW seine alte Zentrale aufgegeben, noch sind hier die Stadtwerke Stuttgart Mieter, die im Oktober dieses Jahres in den Stadtteil Wangen umziehen wollen. Die Umgestaltung des frei werdenden Areals ist seit Jahrzehnten auf der Agenda der Kommunalpolitik. In Kooperation mit der EnBW sollte hier ein "Quartier der Zukunft" entstehen, vermarktet als "der neue Stöckach": mit einem hohen Anteil an Gemeinschaftsflächen, viel Begrünung, wenig Autos, vorbildlich bei der Klimabilanz und mit in Stuttgart so dringend benötigtem günstigen Wohnraum. Von 800 Einheiten, die hier angedacht waren, sollten 40 Prozent sozial gefördert und preiswert vermietet werden. Geschmiedet wurden diese Pläne unter Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger, deren Anregungen zum Teil tatsächlich in den Gestaltungsprozess eingeflossen sind etwa in Form eines Spielplatzes.
Doch Ende April gab die EnBW bekannt, dass sich das Projekt für sie aktuell nicht rentiert und somit erst mal auf Eis liegt. Einer, der sich dadurch in seinen Warnungen bestätigt sieht, ist der Stadtrat Hannes Rockenbauch (SÖS). "Bis hierhin war es eigentlich ein tolles Entwicklungsverfahren mit einer Bürgerbeteiligung auf einem sehr hohen Niveau – da kann man als Stadt fast neidisch werden, welche Mittel die EnBW hier aufwenden konnte", erkennt er an. "Aber am Ende ist und bleibt es eben immer ein Geschäftsmodell für die EnBW." Für Rockenbauch wird hier symptomatisch die große Schwäche der privatwirtschaftlich und investorenorientierten Stadtentwicklung sichtbar: Gemeinwohl und Daseinsfürsorge stehen stets unter dem Vorbehalt, dass es sich rechnen muss.
Auf ein Druckmittel hat die Stadt verzichtet
Bereits 2006 hat Rockenbauch, damals noch als Architekturstudent, an einem Antrag im Gemeinderat mitgearbeitet. "Ziel ist, den Stöckach zu einem lebendigen und attraktiven Stadtteil mit echt städtischen Strukturen und einer sozialen und kulturellen Vielfalt zu machen, in der sich die dort schon vorhandene gesellschaftliche Vielfalt erhalten kann", heißt es darin. Im gleichen Jahr stand der Umzug der EnBW Richtung Fasanenhof an und die Stadt überlegte, die geräumten Immobilien zu kaufen. Und die "Stuttgarter Zeitung" zitierte den Studenten Rockenbauch: "Auf keinen Fall dürfen die anstehenden Umnutzungen den Plänen privater Investoren überlassen werden."
2 Kommentare verfügbar
Peter Kurtenacker
am 03.06.2023Stuttgart ist schon lange auf der Verliererseite. Der Reichtum wird sich rächen, irgendwann fehlt das gesamte Personal für Versorgung usw. Also Krankenpflege, Verkauf, Handwerker, usw. Grund: die werden sich das Wohnen nicht mehr…