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Frauenrechte in Afghanistan

Rückschritt um Rückschritt

Frauenrechte in Afghanistan: Rückschritt um Rückschritt
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Es gab eine Zeit, in der Kabuler Studentinnen problemlos Miniröcke tragen konnten – die späten 1960er-Jahre. Der Einmarsch der Sowjetunion wie auch der des Westens haben zu keiner anhaltenden Verbesserung der Frauenrechte geführt, eher im Gegenteil. Doch unter der Taliban-Herrschaft hat die Bedrohung eine ganz neue Qualität erreicht.

Es geschah nicht etwa in einer der 34 Provinzen, in denen die Taliban mehr oder weniger immer das Sagen hatten, sondern an einem Frühlingstag mitten in der Hauptstadt. Einer jungen Frau wird ohne jeden Beweis vorgeworfen, vor dem Schrein einer Moschee einige Seiten des Koran zerrissen zu haben. Spontan fällt eine schnell größer werdende Gruppe von Männern, viele in westlicher Kleidung, über sie her, der Mob schlägt mit langen Latten auf sie ein. Blutüberströmt versucht die Frau, sich während ihres halbstündigen Martyriums zu erklären, dann überfährt sie ein Auto und sie wird in den Kabul-River geworfen. All das passiert unter den Augen von vorsätzlich untätigen Polizisten und vielen passiven oder filmenden Zusehern, wie Handyvideos zeigen. Der Lynchmord schafft es bis in westliche Medien, ebenso wie die rasche Verurteilung von vier der 49 Angeklagten, darunter 19 Polizisten, zum Tode.

Das war 2015, 14 Jahre nach dem Einmarsch der US-Truppen und dem Start der Operation namens Enduring Freedom. Wer gleich im Herbst 2001 in Aktien der größten Rüstungshersteller investiert hatte, konnte seinen Einsatz bis dahin etwa verzehnfachen. Die ohnehin im Vergleich zu den Militärausgaben verschwindend geringen Mittel, die in den Wiederaufbau flossen, gingen längst schon wieder zurück. Die NATO unterhielt rund 700 Stützpunkte. Von den insgesamt 14 Frauenhäusern, die mit internationaler Hilfe entstanden waren, musste die Hälfte aufgeben. "Wir sind eigentlich nirgendwo", beklagte die Vorsitzende der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission Sima Samar. "Ja, wir reden heute viel mehr über die Rechte der Frauen als früher, aber was haben wir praktisch erreicht? Es gibt Fortschritte, aber was bleibt wirklich von den Worten und Versprechungen im Krieg?"

Die bittere Antwort wird gegenwärtig mit schrecklichen Bildern, allen voran vom Flughafen in Kabul, zur Primetime frei Haus geliefert. Und im "Spiegel" zitiert sich der langjährige Afghanistan-Kenner Christian Neef selber mit einem deprimierenden Resümee von 2009: "Je länger das internationale Engagement dort andauert, desto schlechter wurde die Lage, egal wie viele Tausend Kilometer Straße gebaut, wie viele Brunnen gebohrt und wie viele Schulen errichtet wurden." Oder eben Frauenhäuser. Sie wurden ein besonders eindringliches Symbol für das Scheitern der Bemühungen des Westens, in dem bitterarmen und in vielerlei Hinsicht rückständigen Land Nation-Building zu betreiben und westliche Vorstellungen von einer wenigstens halbwegs demokratischen und rechtsstaatlichen Zivilgesellschaft zu verankern.

90 Milliarden für den Krieg, Peanuts für Frauen

Jahrelang kämpften weibliche Abgeordnete im Kabuler Parlament für einschlägige Gesetzesänderungen. Aus einem Bericht einer Schweizer Projektgruppe geht hervor, wie vergleichsweise aufgeklärte Politiker Frauen, die ihre Männer verlassen hatten, keinen anderen Status zuschreiben wollten als den von Prostituierten. Höchstrichterlich ist in Afghanistan entschieden, dass das Verlassen des Ehemanns als Straftat verurteilt werden kann. Ebenfalls 2009 setzte die Regierung mit Zustimmung des Westens eine Kommission ein, die die aus internationalen Hilfsgeldern finanzierten Frauenhäuser – nicht mehr als ein Dutzend in einem Land mit 40 Millionen BewohnerInnen – unter die Lupe nahm. 2014 wird dann doch mit internationaler Hilfe ein weitreichendes Gewaltschutzgesetz verabschiedet.

Blühen und gedeihen konnten immerhin viele Hunderte Frauenprojekte. Seit 2003 unterstützt die Deutsch-Afghanische Initiative (DAI) in Freiburg zum Beispiel das Frauenzentrum Shahrak in Gebrail nahe Herat, der drittgrößten Stadt des Landes. Es wurde genäht und gelernt, vor allem Rechnen, Schreiben und Lesen. "Mit tausend Euro pro Monat lässt sich der Betrieb des Frauenzentrums mit Kursen für etwa 300 Frauen finanzieren", heißt es in einer Selbstdarstellung der unter anderem von Terre des Femmes und dem Auswärtigen Amt unterstützten Einrichtung aus Zeiten, da allein die USA 90 Milliarden Dollar pro Jahr in diesen Krieg steckten.

2010 wurde, inzwischen unter großer Akzeptanz vor Ort, ein Programm zum Erhalt traditioneller Stickkunst aufgelegt. Seit 2015 ist ein eigenes Gebäude bezogen mit zwei Stockwerken, einer Teestube als Treffpunkt und acht Unterrichtsräumen, in denen regelmäßig Kurse in Nähen, Alphabetisierung, Englisch, EDV, Kochen, Backen und Kosmetik stattfinden. Es gab Workshops zu Frauenrechten oder Hygiene. Fotovoltaik ist installiert. "Der Zugang von Frauen und Mädchen zur Bildung ist ein wesentlicher Grundstein für ihre gleichberechtigte Teilnahme an der Gesellschaft", schreibt die DAI, die in Gebrail auch eine Schule gebaut hat. Der Aufschwung der Kommune illustriert die vergleichsweise stabile Lage in der Region seit dem Ende der Taliban-Herrschaft Anfang des Jahrtausends: aus 3.000 wurden 150.000 EinwohnerInnen.

Dass Frauen in vielen Provinzen nie wirklich sicher sein konnten, belegen ungezählte Studien, Analysen und Situationsberichte. Für nur zwei Monate hat Pro Asyl 2018 auf einer interaktiven Karte Dutzende Anschläge verzeichnet. Kaum ein Tag vergehe ohne Kampfhandlungen, wird da bilanziert, "keine Woche, wo nicht der Drohnenkrieg oder brutales Vorgehen der afghanischen Armee Opfer unter der Zivilbevölkerung fordert". In neun Monaten zählte die Unicef 5.000 verletzte oder getötete Kinder. Seit 2009 seien mehr als 31.000 ZivilistInnen dem Krieg zum Opfer gefallen.

Eine stetig eskalierende Situation

Nachdem Donald Trump im Februar 2020 im Alleingang, an den westlichen Partnern und der Regierung in Kabul vorbei, ein eigenes Friedensabkommen mit den Tabliban samt dem Abzug der Truppen geschlossen hatte, dokumentiert unter vielen anderen Medica Mondiale eine stetig eskalierende Situation. Gegenwärtig sind alle regulären Hilfsprojekte eingestellt. Viele AktivistInnen flohen in letzter Sekunde aus den Provinzen nach Kabul, darunter 90 mit 300 ihrer engsten Familienmitglieder, die sich aus Herat und Mazar-i-Sharif in die Hauptstadt retteten: "Sie berichten von Todesfällen in ihren Familien und fühlen sich in ihrem Leben bedroht."

Medica-Mondiale-Gründerin Monika Hauser forderte Mitte August "eine sofortige Luftbrücke, damit diese Frauen unbürokratisch ausreisen können". Sie hätten zwanzig Jahre lang für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gekämpft: "Die Bundesregierung hat sie dabei finanziell unterstützt, sie hat die Frauen ermutigt, für ihre Rechte zu kämpfen, jetzt sind diese Frauen hoch gefährdet."

Die Lage für Betreuerinnen und Betreute ist auch deshalb so bedrohlich, weil engagierte wie hilfesuchende Frauen und Mädchen immer unter besonderer Beobachtung der männerdominierten Gesellschaft standen, ganz unabhängig von den Taliban. Nicht einmal Gräueltaten wie jene von Kabul führten zu grundlegenden Veränderungen in einer Gesellschaft, in der drei von vier Menschen unter 25 sind.

"Wenn eine Frau oder ein Kind aber den Weg in die Öffentlichkeit sucht und Hilfe von Ältesten, NGOs oder staatlichen Instanzen erbittet, ist dies wiederum ein Verstoß gegen die innerfamiliären Hierarchien und eine öffentliche Infragestellung der Autorität des Familienvorstandes", heißt es in einer der ungezählten Analysen, konkret der Women and Children's Legal Research Foundation. Das sei "traditionell als schwerer wiegendes Vergehen gewertet worden, als es zum Beispiel häusliche Gewalt darstellt". Wer den Weg dennoch geht, wird als verwestlicht verhöhnt oder als allein an einer Flucht interessiert. Ein Familienvorstand, der als nicht durchsetzungsfähig wahrgenommen wird, ist ebenfalls Zielscheibe von Übergriffen. Über all die Jahre hinweg stellt dies eine Studie zur "anderen Seite der Geschlechterungerechtigkeit" fest.

Die freie Berufswahl ist Geschichte

Die eine Seite, jene der Frauen, fand in der wechselvollen jüngeren Geschichte – aus heutiger Sicht – durchaus Beachtung mit bemerkenswerten, längst vergangenen Erfolgen, etwa nach der Unabhängigkeit vom British Empire, als der spätere König Amanullah Khan die Prägung durch westliche Einflüsse akzeptierte. Aus den späten 1960er-Jahren stammen Fotos von Kabuler Studentinnen in Miniröcken. Die Amerikaner hatten damals weder Soldaten noch Polizisten, sondern die Piloten der afghanischen Airline Ariana ausgebildet. Die brachten Modezeitschriften ins Land, mehrere ihrer Frauen gründeten eine Werkstatt und bildeten mit Hilfe von Schnittmusterbögen aus dem Westen Schneiderinnen aus.

1973 wird die Republik ausgerufen, nach dem Militärputsch von 1978 und dem Einmarsch der sowjetischen Truppen ein Jahr später standen Frauen, bei Fügung in die Regeln der Diktatur, weiterhin alle Unis und alle Berufe offen – bis die islamistischen Gotteskrieger sich daran machten, ihre despotischen Träume von der Macht der Männer und der Religion in gesellschaftlichen Alltag zu verwandeln. "Der neue Horror", schreibt Zarifa Ghafari in einem ihrer vielen tausend Tweets, "begann mit der Wiedereroberung des Landes durch die Taliban."

Die Geschichte der Bürgermeisterin von Maidan Shar, 40 Kilometer westlich von Kabul, die ihren Posten schon im Juni räumen musste, steht einerseits für die Entwicklung, die überhaupt möglich machte, dass eine Frau – unter Personenschutz – eine Kommune führte, auch wenn sie sich ihren Amtsantritt erkämpfen musste, weil Männer sie vom Rathaus fernhalten wollten. Sie steht dazu für die gegenwärtige Verzweiflung von Zehntausenden: Die Bürgermeisterin zählt nicht als Ortskraft, sie war weder bei der Bundeswehr noch bei Auswärtigem Amt, deutschen Firmen oder Organisationen beschäftigt und steht ergo auf keiner der Listen. Ausgeflogen ist die 29-Jährige mit ihrer Familie dank einer Privatinitiative inzwischen dennoch. Ohne ihren Vater, den die Taliban 2020 getötet haben.

Die Justizministerin zögert noch

Schleswig-Holstein will die Riesenlücken im Hilfsnetz wenigstens teilweise mit einem eigenen Landesprogramm schließen. Baden-Württembergs Grüne drängen auf eine eigene Initiative zur Zusammenführung von Familien. Über Jahre haben Väter und Söhne Anträge gestellt, Frauen, Schwestern, Mütter, Väter oder Kinder nachzuholen, was vor allem von schwarzen HardlinerInnen – ohne Scheu vor AfD-Nähe in einer so sensiblen Frage – kategorisch abgelehnt wurde.

Die neue Justizministerin Marion Gentges, die die Zuständigkeit für Migrationsfragen von Innenminister Thomas Strobl (beide CDU) übernommen hat, zögert. Grünen-Landeschef Oliver Hildenbrand wiederum drängt mit deutlichen Worten: "Wir müssen denen, die uns geholfen haben, rasch helfen." Und er fordert einen generellen Abschiebstopp, weil es "unfassbar zynisch" sei, "dass bis vor wenigen Tagen noch Debatten über Abschiebungen nach Afghanistan geführt wurden". Mit der formalen Anordnung müsse unterstrichen werden, "wie ernst wir die verheerende Lage in diesem von Krieg und Terror geplagten Land nehmen". Eine CDU-Antwort steht noch aus.

Der Gedenkstein zur Erinnerung an die gelynchte junge Studentin in Kabul ist nach Berichten im Netz inzwischen geschändet, Frauenhäuser sind geschlossen, viele Organisationen bangen um ihre MitarbeiterInnen, Projekte sind gestoppt. In Gebrail wurde zuletzt nicht mehr "gestickt, um Brücken zwischen den Kulturen zu schlagen". Die Brücken bestehen trotzdem weiter, weil die Kunstwerke im Westen ausgestellt und käuflich zu erwerben sind – bis Ende August sind sie auf dem Feldberg im Schwarzwald oder im Oktober in Karlsruhe und Heidelberg.

Mit einem ihrer ersten Gesetze verbannten die Taliban 1996 alle Frauen, außer im Gesundheitswesen, aus der Arbeitswelt. Selbst Witwen mit Kindern durften keinem Broterwerb nachgehen. Hilfsgelder abholen war nur Männern erlaubt. Und wer Mädchen älter als acht Jahre im Geheimen unterrichtete, riskierte, hingerichtet oder gesteinigt zu werden. Zur Abschreckung auch in Fußballstadien.


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1 Kommentar verfügbar

  • Peter Nowak
    am 31.08.2021
    Antworten
    Sehr gut, dass Johanna Henkel-Waidhofer an ein Afghanistan erinnert, in dem Frauenrechte erkämpft wurden. Leider aber geht sie sehr oberflächlich mit der sozialistischen Regierung in Afghanistan ein, wenn sie schreibt, "nach dem Militärputsch von 1978 und dem Einmarsch der sowjetischen Truppen ein…
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