Es geschah nicht etwa in einer der 34 Provinzen, in denen die Taliban mehr oder weniger immer das Sagen hatten, sondern an einem Frühlingstag mitten in der Hauptstadt. Einer jungen Frau wird ohne jeden Beweis vorgeworfen, vor dem Schrein einer Moschee einige Seiten des Koran zerrissen zu haben. Spontan fällt eine schnell größer werdende Gruppe von Männern, viele in westlicher Kleidung, über sie her, der Mob schlägt mit langen Latten auf sie ein. Blutüberströmt versucht die Frau, sich während ihres halbstündigen Martyriums zu erklären, dann überfährt sie ein Auto und sie wird in den Kabul-River geworfen. All das passiert unter den Augen von vorsätzlich untätigen Polizisten und vielen passiven oder filmenden Zusehern, wie Handyvideos zeigen. Der Lynchmord schafft es bis in westliche Medien, ebenso wie die rasche Verurteilung von vier der 49 Angeklagten, darunter 19 Polizisten, zum Tode.
Das war 2015, 14 Jahre nach dem Einmarsch der US-Truppen und dem Start der Operation namens Enduring Freedom. Wer gleich im Herbst 2001 in Aktien der größten Rüstungshersteller investiert hatte, konnte seinen Einsatz bis dahin etwa verzehnfachen. Die ohnehin im Vergleich zu den Militärausgaben verschwindend geringen Mittel, die in den Wiederaufbau flossen, gingen längst schon wieder zurück. Die NATO unterhielt rund 700 Stützpunkte. Von den insgesamt 14 Frauenhäusern, die mit internationaler Hilfe entstanden waren, musste die Hälfte aufgeben. "Wir sind eigentlich nirgendwo", beklagte die Vorsitzende der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission Sima Samar. "Ja, wir reden heute viel mehr über die Rechte der Frauen als früher, aber was haben wir praktisch erreicht? Es gibt Fortschritte, aber was bleibt wirklich von den Worten und Versprechungen im Krieg?"
Die bittere Antwort wird gegenwärtig mit schrecklichen Bildern, allen voran vom Flughafen in Kabul, zur Primetime frei Haus geliefert. Und im "Spiegel" zitiert sich der langjährige Afghanistan-Kenner Christian Neef selber mit einem deprimierenden Resümee von 2009: "Je länger das internationale Engagement dort andauert, desto schlechter wurde die Lage, egal wie viele Tausend Kilometer Straße gebaut, wie viele Brunnen gebohrt und wie viele Schulen errichtet wurden." Oder eben Frauenhäuser. Sie wurden ein besonders eindringliches Symbol für das Scheitern der Bemühungen des Westens, in dem bitterarmen und in vielerlei Hinsicht rückständigen Land Nation-Building zu betreiben und westliche Vorstellungen von einer wenigstens halbwegs demokratischen und rechtsstaatlichen Zivilgesellschaft zu verankern.
90 Milliarden für den Krieg, Peanuts für Frauen
Jahrelang kämpften weibliche Abgeordnete im Kabuler Parlament für einschlägige Gesetzesänderungen. Aus einem Bericht einer Schweizer Projektgruppe geht hervor, wie vergleichsweise aufgeklärte Politiker Frauen, die ihre Männer verlassen hatten, keinen anderen Status zuschreiben wollten als den von Prostituierten. Höchstrichterlich ist in Afghanistan entschieden, dass das Verlassen des Ehemanns als Straftat verurteilt werden kann. Ebenfalls 2009 setzte die Regierung mit Zustimmung des Westens eine Kommission ein, die die aus internationalen Hilfsgeldern finanzierten Frauenhäuser – nicht mehr als ein Dutzend in einem Land mit 40 Millionen BewohnerInnen – unter die Lupe nahm. 2014 wird dann doch mit internationaler Hilfe ein weitreichendes Gewaltschutzgesetz verabschiedet.
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Peter Nowak
am 31.08.2021