Zeichen der Normalität sind willkommen. Sogar solche: Vergangene Woche wollte sich die FDP-Fraktion im Landtag Winfried Kretschmann vorknöpfen, weil der einen "ordentlichen Krisenmodus" vermissen lasse. Den Grünen animiert das zu einer kleinen Lektion über Grundsätzliches: Kennzeichen einer Krise sei "gerade das Plötzliche, das Unvorhergesehene, die Dynamik, und wenn man eine Krise planen könnte, dann würde man sie ja wohl verhindern". Was selten genug vorkommt: Der Regierungschef teilt persönlich aus. "Bei Ihnen ist die alte Normalität zurückgekehrt", spricht er den allemal leicht hyperaggressiven Chef der liberalen Fraktion, Hans-Ulrich Rülke, direkt an, "da können wir doch alle hoffen und kommen vielleicht auch in die Normalität zurück."
Zwei Tage später blasen die Liberalen zur nächsten Attacke: auf Manfred Lucha. Seit bald einem Jahr schwelt die seltsame Affäre um 180.000 Euro Fördermittel für ein von Christoph Sonntag mitverantwortetes Demokratieprojekt für Jugendliche, einschließlich zweier Abendessen der persönlich gut bekannten Herren und um zweimal eine niedrige dreistellige Summe. Der Kabarettist lud den Sozialminister ("Ein großer Fehler") ein. Die Mittelverwendung ist inzwischen – ohne Beanstandung – durchleuchtet, weil "kein hinreichender Tatverdacht für ein strafbares Verhalten festgestellt werden konnte".
Mitte April startete die Staatsanwaltschaft erneut Vorermittlungen, diesmal ebenfalls gegen den Minister, wobei die Vorsilbe Vor in der Berichterstattung gern unter den Tisch fällt. Wie gewohnt griff Rülke zum schweren Säbel, ernannte Lucha zum "Minister auf Abruf" und stufte ihn ein als "schwer angeschlagen". Nur aufgrund der Corona-Pandemie sehe die FDP von einer Rücktrittsforderung ab, so Rülke huldvoll, weil das Land einen handlungsfähigen Sozialminister benötige. Dass er damit auch noch dem eigenen Kollegen Jochen Haussmann widersprach, der, als die Vorermittlungen starteten, erklärt hatte, selbstverständlich gelte die Unschuldsvermutung, machte dem Fraktionsvorsitzenden wenig aus.
"Abschotten, abschirmen, Ketten unterbrechen"
Schwer angeschlagen oder handlungsfähig? Auf jeden Fall wird er gebraucht. Am 5. Februar hat Manfred Lucha den Landtag erstmals über die Corona-Lage im Land informiert. Da gab's noch keinen einzigen Fall in Baden-Württemberg, 84 Menschen waren negativ getestet, 14 in häuslicher Quarantäne. Aus heutiger Sicht lässt sich das Vorgehen als vorausschauend bewerten. Der Minister erläuterte die Strategie ab der ersten Infektion – "abschotten, abschirmen, Ketten unterbrechen" – und erklärte, dass sogleich eine Taskforce an die Arbeit gehen wird. Knapp drei Wochen später war es so weit. Ein 25-Jähriger, der sich vermutlich in Mailand angesteckt hatte, wurde positiv getestet. Lucha brach seinen Urlaub ab und wechselte in den Krisenmodus.
Der passe zu ihm, heißt es in seinem Team. Er packe gern zu, zuviel sei ihm nichts. Dutzende Termine Tag für Tag, Konferenzen, Info-Runden oder Sprechstunden für BürgerInnen auf Instagram, alle Corona-Verordnungen gehen über seinen Tisch. Dreimal pro Woche trifft sich die Taskforce, immer unter dem Vorsitz des Ministers. Und der hält allen Beteiligten zu Gute, von Anfang an "Schritt für Schritt zu gehen und nicht zu wackeln". Intelligentes Herantasten in einem dynamischen Prozess nennt er das und verspricht, "genauso weiterzumachen". Dass er sich wie Kretschmann selbst beim Koalitionspartner und in Teilen des Publikums den Vorwurf einhandelt, jetzt in der Phase der Lockerungen auf der Bremse zu stehen, lässt ihn unbeeindruckt. Wer gestalten wolle, hält Lucha dagegen, müsse etwas riskieren – und das heiße in Corona-Zeiten eben, zurückhaltend zu sein. Selbst wenn der Applaus ausbleibe.
Mit der Rolle als Getriebener hat er sich abgefunden. Am Wochenende verkündet er gemeinsam mit Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU), mit der Öffnung von Hotels, Ferienwohnungen und Campingplätzen folge jetzt der nächste wichtige Schritt zum Wiederaufleben des sozialen und wirtschaftlichen Lebens im Land. Zeitgleich verlangt der für Tourismus zuständige Justizminister Guido Wolf (CDU) eine weitere Perspektive für die noch geschlossenen Bäder und Wellnessbereiche. Natürlich ist sein Haus in der zuständigen Lenkungsgruppe vertreten, natürlich weiß er ums weitere Vorgehen. "Als die Ressorts verteilt wurden", erinnert sich ein grüner Koalitionsunterhändler an 2016, "wollten die Schwarzen das Sozialministerium." Aber jetzt gebe es "Eifersüchteleien", weil Lucha "diese herausragende Rolle hat".
Anstrengende Bühnenpräsenz
Und weil der Minister, der nach Amtsantritt 2016 amtlich mitteilte, dass er nicht Manfred, sondern wie bisher Manne heißen will, das Land selbst in heiklen emotionalen Fragen deutschlandweit zum Vorreiter gemacht hat. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte sich vergangene Woche für präventive Reihentests in Pflege- und Altenheimen ausgesprochen. Im Südwesten wird in solchen Einrichtungen bereits getestet, und zwar flächendeckend. Das erlaubt Lockerungen bei Besuchen und bringt neue Erkenntnisse. Im Kreis Reutlingen sind alle BewohnerInnen auf Corona durchuntersucht, mit dem Ergebnis, dass 73 Prozent der Getesteten nichts von ihrer Erkrankung wussten. Sogar in der "heute"-Sendung wird das Land als nachahmenswert präsentiert.
So etwas geht runter wie Öl und freut den 59-Jährigen, dessen selbstbewusstes Auftreten unter Grünen schon lange legendär ist. Keine Landesdelegiertenkonferenz ohne einen Auftritt des zugewanderten Ravensburgers mit der hohen, durchaus nicht unanstrengenden Bühnenpräsenz. Aufgefallen ist er auch mit dem Türkis am Lederband um den Hals, den er bis heute und jetzt eben unter Anzug und Krawatte trägt. Er rockte die Basis genauso wie er sie nervte. Seine Performance ist Vor- und Nachteil zugleich, der Redner Manfred Lucha prägt sich jedem ein mit seinem Temperament und dem unverwechselbaren Bajuwarisch, so oder so.
Gleich nach seinem Wechsel ins Regierungsamt war die Begeisterung groß bei jenen Gruppen, die sich verstanden fühlten von dem gelernten Krankenpfleger, der auf dem zweiten Bildungsweg Sozialarbeit sowie Management im Sozial- und Gesundheitswesen studiert hatte und selber fachlicher Leiter in einem gemeindepsychiatrischen Zentrum war. Andere, gar nicht zuletzt der Landessenioren- und vor allem der Landesfrauenrat, fühlten sich alleingelassen bis schlecht behandelt. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern rund um Sozialministerium, dass der Minister und seine mit den Gleichstellungsagenden betraute Staatssekretärin Bärbl Mielich, die Grüne vom linken Parteiflügel, sich schwer taten miteinander. In der Krise sind diese und andere Unwuchten teils verdrängt von der Tagesordnung und teils behoben.
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