KONTEXT:Wochenzeitung
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Keine Kontrollen ohne Verdacht

Keine Kontrollen ohne Verdacht
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Schon wieder Verschärfungen beim baden-württembergischen Polizeigesetz? Im Gegenteil, sagt der grüne Abgeordnete Uli Sckerl, und empfiehlt, mehr als nur die Überschriften zu lesen. Und er verrät, dass die Grünen nach den nächsten Wahlen "endlich das Innenministerium übernehmen" wollen.

Algorithmen basierte Videoüberwachung, elektronische Fußfesseln und die Quellen-Telekommunikationsüberwachung, besser bekannt als Staatstrojaner. "Wir gehen an die Grenze des verfassungsmäßig Machbaren", sagte der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann 2017 über Baden-Württembergs neues Polizeigesetz. Doch kaum ein Jahr später drängte der konservative Koalitionspartner bereits auf die nächste Reform, die Sicherheitsbeamten noch mehr Befugnisse zusprechen sollte. Zum Jahresende 2019 wurde bekannt, dass sich ein Kompromiss der Regierungsparteien abzeichnet. Allerdings, sagt Uli Sckerl, innenpolitischer Sprecher der grünen Landtagsfraktion, wäre es falsch, hier von weiteren Verschärfungen zu sprechen. 

Herr Sckerl, mit den verschärften Polizeigesetzen, nicht nur in Baden-Württemberg, könnte der Eindruck entstehen, dass die Bevölkerung zunehmend unter Generalverdacht gerät – während es keine neuen Maßnahmen gibt, unseren Sicherheitsbehörden genauer auf die Finger zu schauen. Ist da was dran?

Auf den ersten Blick könnte man diesen Eindruck bekommen – wenn man nur Überschriften liest. Allerdings sollte man Änderungen nicht per se mit Verschärfungen gleichsetzen. Im Parlament arbeiten wir auch daran, Bürgerrechte zu verbessern. Wir Grüne fordern ja seit geraumer Zeit die Einrichtung eines Parlamentarischen Kontrollgremiums, wie es das bereits für den Verfassungsschutz gibt, das sich mit heimlichen Überwachungsmaßnahmen der Sicherheitsbehörden beschäftigt. Das wäre für uns eine notwendige Einrichtung.

Hier ist es ebenso wie beim Verfassungsschutz für Betroffene teilweise schwierig, eine gerichtliche Kontrolle zu erreichen. Es ist aber das Wesen des Rechtsstaates, dass sich die Gewalten gegenseitig kontrollieren. Wenn es da ein Gremium gibt, das die Vorfälle aufarbeitet, kann man das Bild objektivieren. Und so eine Einrichtung kann nach unserer Überzeugung durchaus auch mal der Polizei helfen, um ein schiefes Bild, das vielleicht entstanden ist, wieder gerade zu rücken. Im Parlament haben wir für ein solches Gremium aber keine Mehrheit. Der Koalitionspartner macht nicht mit, die anderen Fraktionen ebenfalls nicht.

Wer Polizeibeamte besser kontrollieren will, muss sich meistens den Vorwurf anhören, man würde der ganzen Institution misstrauen.

Das ist völliger Unsinn. Grundsätzlich haben wir sicher nicht den Eindruck, unsere Polizei in Baden-Württemberg würde nicht rechtsstaatlich handeln. Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, das Handeln der Polizei von Gerichten überprüfen zu lassen. Es gibt jedoch eine Kontrolllücke bei heimlichen polizeilichen Überwachungsmaßnahmen. Diese soll das Kontrollgremium schließen.

Was ist eigentlich aus der anonymisierten Kennzeichnungspflicht für Beamte bei Demonstrationen und Großlagen geworden, die 2011 mal im grün-roten Koalitionsvertrag stand?

Die Kennzeichnung fordern wir ja seit langem und halten daran fest. Übrigens auch, weil es gerade für die Polizei ein Hilfsmittel wäre, um pauschalen Verdächtigungen zu entgehen. Ich denke da immer an den 30. September 2010, den Schwarzen Donnerstag in Stuttgart, mit vielen Verletzten nach einem rechtswidrigen Polizeieinsatz. Da hätte eine anonymisierte Kennzeichnung geholfen, Fehlverhalten und Übergriffe sehr gezielt einzelnen Personen zuzuführen und die Polizei insgesamt von Pauschalverurteilungen, die es damals gegeben hat, zu befreien. Leider konnten wir Grüne, das muss ich selbstkritisch sagen, die Kennzeichnungspflicht mit der SPD nicht durchsetzen, und jetzt seit 2016 mit der CDU ebenfalls nicht.

Dabei argumentieren doch insbesondere Konservative gerne: Wer nichts zu verbergen hat, der braucht auch keine Sorgen haben, kontrolliert zu werden. Haben Sie die Kollegen mal gefragt, warum man dieses Prinzip nicht auf die Polizei anwenden darf?

Das ist eine Diskussion, die wir ständig führen. Eine moderne, bürgernahe Polizeiarbeit zeichnet sich vor allem durch Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen aus. Das ist ein Ansatz, für den wir werben. Eine unverzichtbare Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Grünen bei der nächsten Landtagswahl so stark abschneiden, dass wir endlich mal das Innenministerium übernehmen können.

Streben Sie das an?

Das streben wir an, ja.

Aktuell geht es noch in die andere Richtung. Erst 2017 wurde das baden-württembergische Polizeigesetz massiv verschärft, und schon steht, auf Drängen der Union, die Verschärfung der Verschärfung an – ohne dass überhaupt eine Evaluation der bisherigen Maßnahmen vorliegt. Das kann Ihnen eigentlich nicht gefallen. Wie konnte es dazu kommen?

Alles andere als gefallen hat auch mir, was ich im Oktober 2018 in meinem Postfach gefunden habe. Ein mehrere hundert Seiten dicker Katalog vom Innenministerium, in dem uns ohne Ankündigung weitere umfassende Verschärfungen vorgelegt worden sind. Die Kombination aus unterschiedlichen Überwachungs- und Auswertungsinstrumenten hätten schwere und nicht zu rechtfertigende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Bürgerinnen und Bürgern bedeutet. Ohne auf einzelne Punkte näher einzugehen, haben wir von unserem Rückgaberecht Gebrauch gemacht. Wir baten das Innenministerium darum, die Fassung so zu ändern, dass sie sich auf anlassbezogene und verhältnismäßige Kriterien stützt. Das Innenministerium war anderer Auffassung. Deshalb kamen die Verhandlungen monatelang nicht voran – weil eben der Gesamtmix nicht stimmte. Kein Wunder, dass wir mit keinem anderen Gesetz in der Legislatur so lange gerungen haben, wie mit der Aktualisierung des Polizeigesetzes.

Die Evaluierung der Maßnahmen, die 2017 eingeführt wurden, steht erst 2022 an. Jetzt würde bei einer solchen Untersuchung aber auch nichts rauskommen. Von den neuen Befugnissen wird in der Praxis kaum Gebrauch gemacht. Das sind sozusagen Placebo-Geschichten. Es gab nach unserem letzten Stand keinen einzigen Einsatz von elektronischen Fußfesseln, ebenso wenig wie von der Quellen-Telekommunikationsüberwachung (TKÜ), bekannt als Staatstrojaner. Und wenn jetzt von weiteren Verschärfungen die Rede ist, dann stimmt das nicht so ganz.

Können Sie das ausführen?

Im vergangenen Dezember ist ein Verhandlungsergebnis in unzureichender Form an die Öffentlichkeit gelangt. Die einzige Verschärfung, die jetzt ins Gesetz kommt, ist der Einsatz von Body-Cams in Privatwohnungen, übrigens unter strengen Voraussetzungen. Dass wir, als Grüne, da mitmachen, tun wir nicht, um der CDU zu gefallen oder Innenminister Thomas Strobl entgegenzukommen. Vielmehr hat uns die Vollzugspolizei händeringend darum gebeten. Was wir von Polizistinnen und Polizisten immer wieder gehört haben, ist, dass der Einsatz von Body-Cams im öffentlichen Raum eine deeskalierende Wirkung hat. Die Polizei rennt ja nicht mit laufender Kamera durch die Königstraße. Sie geht auf Streife, sieht eine Auseinandersetzung, und sagt: "Achtung, wir machen jetzt die Kamera an! Wir nehmen das auf, was ihr hier macht" – zum Beispiel eine Schlägerei. Die Aufzeichnungen helfen hier, dass weniger Menschen verletzt werden. Das ist der eine Punkt. Der andere, der uns sehr nachdenklich macht und auch von Fraueneinrichtungen so bestätigt wurde, ist die starke Zunahme von häuslicher Gewalt - meistens Ehemänner, die Frauen und Kinder schlagen. Die Polizei wird gerufen, und es kommt zu unschönen Szenen. Gegen die Beamten, aber oft auch – im Beisein der Polizisten! – gegen Familienangehörige. Oft ist es schwierig, hier etwas nachzuweisen. Da hilft die Body-Cam, um die Beweislage zu verbessern.

Und wie sehen die strengen Voraussetzung für den Einsatz aus?

Vorweg: Die Kamera darf nur in schweren Gefahrensituation eingesetzt werden. Beim Filmen von Gewalt in Privatwohnungen kommt es zum Konflikt zweier Grundrechtsgüter: Die Unverletzlichkeit der Wohnung gegen die Unverletzlichkeit der Person. Beides ist enorm wichtig. In diesem Fall hat sich die Waage in Richtung Unverletzlichkeit der Person geneigt. Aber wir haben zusätzlich einen Richtervorbehalt geschaffen. Das bedeutet: Die Aufzeichnungen der Body-Cam dürfen in Prozessen erst verwertet werden, wenn sie von einem Richter genehmigt worden sind.

Wenn es heißt, das sei die einzige neue Verschärfung: Was ist denn mit den Personenkontrollen bei Großveranstaltungen wie Demonstrationen?

Das kam falsch rüber. Es trifft das Gegenteil zu: Die Hürden für Personenkontrollen werden heraufgeschraubt, nicht herab. Das betrachten wir durchaus als Erfolg, da haben wir das Gesetz im Sinne der Bürgerinnen und Bürger verbessert.

Inwiefern?

Indem es anlasslose Durchsuchungen in Zukunft eben nicht mehr geben soll. Bisher fehlt hierzu eine klare Bestimmung dazu im Polizeigesetz. Teilweise wurden anlasslose Kontrollen auf eine Regelung zu sogenannten "gefährlichen Orten" gestützt. Das heißt dann, dass ohne konkreten Anlass oder Verdacht jede Person, die die Polizei an dem Ort antrifft, durchsucht werden darf. Das ist der rechtliche Ist-Zustand und die Alltagsrealität für viele Bürger, auch unbescholtene. Deswegen haben wir darum gekämpft, dass solche Durchsuchungen bei Großveranstaltungen nur noch stattfinden können, wenn die zu durchsuchende Person einen Anlass gegeben hat. Im Moment kämpfen wir noch um die abschließende Formulierung im Gesetz, das wird noch spannend. Aber das ist für uns der Fortschritt, den wir haben wollten: Schluss mit anlasslosen Durchsuchungen und Personenkontrollen! Die Polizei muss gerichtsfest Gründe vorlegen können, warum sie jemanden verdächtigt hat.

Ein komisches Aussehen reicht also nicht?

Nein, das reicht nicht. Wir wollen damit auch jeden Ansatz für Racial Profiling ausschließen. Wir unterstellen der Polizei nicht, dass sie das gezielt betreiben würde. Klar ist aber: Mit dieser Regelung schieben wir dem einen Riegel vor.

In der ganzen Debatte um die verschärften Sicherheitsgesetze fällt immer wieder das Totschlagargument, all das diene Terrorismusabwehr. Aber was haben denn der Einsatz von Body-Cams oder Personenkontrollen auf Demonstrationen mit Terrorprävention zu tun?

Die neuen Maßnahmen, die jetzt in sehr, sehr abgespeckter Version kommen, zielen nicht primär auf Terrorismusbekämpfung ab. Auch bei den Neuerungen 2017 geht es nicht nur um Terrorismus, sondern genauso um allgemeine Schwer-, und durchaus auch Schwerstkriminalität. Etwa um Eingriffsbefugnisse gegen Drogendealer, Mafia- und Clanstrukturen. Wir würden auch gerne das ganze Lagebild, das dem zugrunde liegt – der Einschätzung ‚Wir leben in einer enormen terroristischen Bedrohungslage!‘ – ändern, und durch eine realistischere ersetzen – und dementsprechend auch die Maßnahmen zurückfahren oder anders ausgestalten.

Nehmen wir an, es klappt 2021 mit dem grünen Innenministerium: Welche Verschärfungen würden Sie denn gerne wieder loswerden?

Ganz kritisch werden wir uns die Quellen-TKÜ noch einmal anschauen, wobei es durchaus sein kann, dass diese unter Umständen bis dahin sowieso schon vom Bundesverfassungsgericht einkassiert worden ist. Es gibt da eine ganze Reihe von Beschwerden, gegen das neue Polizeigesetz aus Bayern, aber auch das baden-württembergische, da müssen wir ehrlich sein.

Ein etwas anderes Thema: Aktuell sitzt eine Partei im Parlament, die offen rechtsextreme Strömungen toleriert und in das Gremium will, das den Verfassungsschutz kontrolliert. Wie gehen Sie damit um?

So weit es in unserer Macht steht, lassen wir niemanden in diese Gremien, der oder die gleichzeitig Gegenstand einer nachrichtendienstlichen Überwachung ist. Das gilt für den Flügel der AfD. Deswegen ist es völlig absurd, dass die Abgeordnete Christina Baum sich in das Kontrollgremium wählen lassen will. Dort trägt der Innenminister vor, der Flügel der AfD biete Anlass, die Beobachtung zu intensivieren – und die Frontfrau des Flügels sitzt als Mitglied in diesem Gremium? Das ist natürlich unvorstellbar. Das würde heißen, eine ganz wesentliche Kontrollfunktion des Parlaments könnte nicht mehr stattfinden, gegenüber genau diesem Bereich des Rechtsextremismus. Das wollen wir nicht zulassen.

2018 hat der Landtag wegen rechtsextremen Mitarbeitern seine Hausordnung verschärft. Dennoch sind dort weiterhin Personen mit Verstrickungen in die Neonazi-Szene beschäftigt. Macht sich das auch inhaltlich bemerkbar?

Mit Sicherheit. Die schreiben Reden, Parlamentsanträge und Facebook-Beiträge. Und, da gibt es einen Strukturwandel, ein Teil der Mitarbeiter der AfD oder ihrer Abgeordneten, sind zunehmend neu-rechte Intellektuelle. Keine Skinheads oder Schlägertypen, sondern Leute, die auch in der Lage sind, politische Anträge et cetera zu verfassen. Das muss man ernst nehmen und das ist eine Herausforderung.

Im Osten der Republik lässt sich beobachten, wie zwischen Teilen der CDU und AfD die großen Vorbehalte zu schwinden scheinen. In Baden-Württemberg ebenfalls? Immerhin gibt es hier ja den größten AfD-Anteil in den Parlamenten der alten Länder.

Die CDU im Kern, samt Fraktion, Fraktionsvorstand, den agierenden Personen, ihren Ministerinnen und Ministern, sind immun, Gott sei Dank. Und Strobl, das muss man ihm lassen, hat eine klare Position zur AfD und gehört zu denjenigen im Parlament, die die Partei am stärksten kritisieren. Da ziehen wir an einem Strang und das ist gut.

Am Monatsanfang gab es rechtsextreme Demonstrationen vor Presseinstitutionen, auch in Baden-Baden vor dem SWR. Für Redaktionen wird es zunehmend zum Kostenrisiko, überhaupt über die rechte Szene zu berichten, weil die sehr klagefreudig ist, und sogar erfolgreiche juristische Auseinandersetzungen Zeit, Geld und Nerven kosten. Gibt es da politische Bestrebungen, eine freie Presse zu stärken?

Bei uns gibt es die, ja. Wir würden auch gerne in Baden-Württemberg ein entsprechendes Bündnis auf den Weg bringen, gerade nach Baden-Baden. Ich habe mir die Videos der Redebeiträge angesehen – das ist wirklich übel. Insbesondere was Dubravko Mandic von sich gibt, lässt sich sehr leicht als Aufruf zu körperlicher Gewalt gegen Beschäftigte des SWR interpretieren. Das ist völlig inakzeptabel. Aber wahrscheinlich war es wieder so geschickt formuliert, dass es knapp an einer Straftat vorbeiging. Da sind wir gefordert. Politik muss sich schützend vor die freie Presse stellen.


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12 Kommentare verfügbar

  • chr/christiane
    am 24.09.2020
    Antworten
    "Mannheim sagt ja" kümmert sich um die Themen Flüchtlinge und Migration.Rassismus ist auch immer wieder Thema auf deren Facebook-Seite.Verantwortlich für die Facebook-Seite ist der Mannheimer Stadtrat Gerhard Fontagnier--von den Grünen.

    Vorgestern wurde ein Artikel verlinkt, in dem Tipps gegeben…
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