70 Jahre mussten vergehen, damit dieser Auftrag erteilt wird. Und selbst jetzt ist Baden-Württemberg noch anderen Bundesländern voraus, weil nirgendwo sonst in der Republik der Mantel des Schweigens über diesen speziellen Aspekt der Zeit von Ende der 1920er bis 1945 ernsthaft und wissenschaftlich gelüftet wurde. Die tausend Seiten starke Veröffentlichung der Kommission für geschichtliche Landeskunde Baden-Württemberg bleibt also vorerst die einzige Arbeit, die die Stellung von Landesministerien, der Verwaltung und damit der StaatsdienerInnen "in einen historischen Erklärungszusammenhang" bringt, wie Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) sagt. Sie hatte den Anstoß zu dem aufwändigen Unternehmen gegeben, die Schirmherrschaft übernommen und bei der Stiftung Baden-Württemberg die notwendigen 1,5 Millionen Euro besorgt.
Geforscht wurde seit 2014. Auf einem Onlineportal stehen Zwischenberichte und die Aufforderung an ZeitzeugInnen oder deren Nachkommen, Materialien zu übergeben. "Im Idealfall", so Wolfram Pyta, einer der Projektleiter, "sogar noch in Privatbesitz befindliche Dokumente." Die Erkenntnisse werden sich in tausenden Familien im Land nicht decken mit dem, was Großeltern oder Eltern erzählt haben. Denn: Weite Teile der Beamtenschaft seien "in ihrem fragwürdigen Staatsverständnis Vollstrecker von Unfreiheit und Unrecht" gewesen.
Sollten sich andere Länder auch auf diesen Weg machen, dürften ähnliche Ergebnisse herauskommen. Zugleich weisen Württemberg und Baden Besonderheiten auf, die die Bereitschaft zum Mitmachen eindrücklich unterstreichen, zur Ein- und Unterordnung ebenso wie zum aktiven Vorangehen im Dienste der Machthaber.
In Württemberg gehörten der Mittelstand und eine gewisse Krisenfestigkeit schon damals zum Selbstverständnis, die wirtschaftliche Situation war im Vergleich mit Baden und dem Reich deutlich besser. Zum Beispiel lag die Arbeitslosenquote in den frühen Dreißigern in Stuttgart bei 10,5 Prozent. Am 24. April 1932, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, stimmten dennoch 26,4 Prozent der Wahlberechtigten für die NSDAP. Vier Jahre zuvor waren es nur 1,8 Prozent.
Auch in Baden mochten, wie es heißt, "im Vergleich mit der Entwicklung im Reich und in den meisten anderen deutschen Ländern die innenpolitischen Verhältnisse" länger als anderswo "stabil erscheinen". Die Stabilität "dürfte in den politischen Traditionen des Landes zu suchen sein, in dem bereits im Kaiserreich die Zentrumspartei demokratisch profiliert, der Liberalismus stärker als andernorts und die Sozialdemokraten mehr reformistisch als revolutionär geprägt gewesen waren".
Im Karlsruher Landtag spielte die NSDAP Ende der 1920er Jahre noch eine, so heißt es in der Studie, "untergeordnete Rolle". Dann allerdings setzte eine "dynamische Entwicklung" ein: Aus 70 Ortsgruppen im Februar 1930 wurden bis Jahresende 230 mit über 5000 Mitgliedern. Der Aufbau der badischen SA ging ebenfalls rasch voran. Schon in der Jahresmitte 1931 zählte sie mehr als 3000 Mitglieder und übertraf damit die Personalstärke ihres württembergischen Pendants deutlich. 1932 stimmten in Baden bereits 34 Prozent für die NSDAP.
Bürgerlich gekleidet zum Nazi-Fackelzug
In beiden Ländern nahm eine Entwicklung ihren Lauf, die "uns ein mahnendes Beispiel gibt", so Bauer. In Karlsruhe erwog das rechtsliberale Lager Anfang 1933 sogar den Eintritt in die Regierung. Und weil die "Loyalitätsbindungen" an die demokratisch legitimierten Regierungen nicht allzu stark waren, begann auch die Beamtenschaft sich umzuorientieren. Allen voran betraf das die Polizei. So wollte deren Karlsruher Kapelle noch vor der Machtübernahme "in bürgerlicher Kleidung", aber geschlossen an Nazi-Fackelzügen teilnehmen.
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Steiner
am 15.05.2019