Über die Aufarbeitung rechtsextremer Verbrechen wird zurzeit viel gesprochen: nicht nur über Neonazis und den Prozess gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund". Aufsehen erregen auch die Ermittlungen gegen Täter aus der NS-Zeit. Eine angeblich neue Namensliste enthält die Namen von fünfzig Wärtern des Konzentrationslagers Auschwitz, die noch am Leben sind. Erst kürzlich wurde Hans Lipschis (93) aus Aalen in Ostwürttemberg in Untersuchungshaft genommen; er soll Koch und Wachmann in Auschwitz gewesen sein. <link http: www.kontextwochenzeitung.de macht-markt das-kreuz-mit-den-ns-taetern-461.html _blank>Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft wirft ihm Beihilfe zum Mord in fast 10 000 Fällen vor.
Doch der Eifer im Fall Lipschis täuscht. Die gleiche Staatsanwaltschaft hat zehn Jahre lang gegen SS-Schergen ermittelt, die in Italien in Abwesenheit bereits für ein Massaker im Bergdorf Sant'Anna di Stazzema verurteilt worden waren. Im Herbst 2012 wurde das Verfahren angeblich mangels Beweisen eingestellt. Der Fall hat über die Grenzen der BRD hinaus für Schlagzeilen gesorgt.
Das Gleiche gilt für den Fall Kirsten Goetze. Deutschland hat die erfolgreiche Nazijägerin trotz internationaler Proteste kaltgestellt. Die 48-jährige ehemalige Richterin in Sachsen-Anhalt arbeitete seit 2007 bei der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen" (ZSt) in Ludwigsburg bei Stuttgart. Sie ermittelte dort unter anderem gegen John Demjanjuk und organisierte dessen Überführung aus den USA nach Deutschland. Auch anhand ihrer Ermittlungsergebnisse wurde der KZ-Wächter 2011 der Beihilfe zum Mord in mehr als 28 000 Fällen im Vernichtungslager Sobibor für schuldig befunden. Dieses war neben Treblinka und Belzec im Rahmen der "Aktion Reinhardt" errichtet worden, dem Tarnnamen für die Vernichtung von mehr als zwei Millionen Juden im besetzten Polen und der Ukraine. Die Lager hatten den ausschließlichen Zweck, Juden zu töten.
Wer hier arbeitete, wusste, was er tat. Er war Teil der fabrikmäßigen Tötungsmaschinerie. Gleiches gelte für den Bereich der Rampe des Lagers Auschwitz-Birkenau, sagt Kirsten Goetze. "Der Rampenbereich war hermetisch abgeriegelt. Jeder aus der Wachkompanie wusste, was er zu tun hatte. Der auf dem Wachturm wusste, was der an der Rampe tat. Der an der Rampe wusste, was der an der Gaskammer tat."
Akribische Rechercheurin
Weil das so war, stellte die Juristin die seit Jahrzehnten geltende Rechtsprechung – nach der jedem Nazimörder individuell nachgewiesen werden musste, dass er tötete – vom Kopf auf die Füße. Was in jüngster Zeit in verschiedenen Medien als neue Rechtsauffassung bezeichnet wurde, war laut Goetze schon immer geltendes Recht. Schuldig ist auch der, der Teil der Tötungsmaschinerie ist. "Deutsche Richter hätten schon vor Jahrzehnten all jene verurteilen können, die Kopf der Tötungsmaschine waren", sagt sie. "Dann wäre es heute besser vermittelbar, dass man die noch lebenden Gehilfen verfolgt."
Erstmals war das – dank Goetze – bei Demjanjuk gelungen. Und so wird es wohl auch bei Johann Breyer sein, über den die Richterin ein dickes Dossier erstellte und dessen Verfahren seit August 2012 bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Weiden/Oberpfalz liegt. Die "Berliner Zeitung" berichtete am 25. September 2012 und am 9. April 2013 über den Fall. Breyer, der in den USA lebt, war in Auschwitz II Angehöriger der SS-Wachmannschaften, die an der Rampe Dienst taten. Er war laut den Ermittlungen einer derjenigen, die am fabrikmäßigen Töten teilnahmen, und ist mitverantwortlich für die Ermordung von mindestens 344 000 ungarischen Juden.
Akribisch hat Goetze die Abläufe in dem hermetisch abgeschlossenen Bereich der Rampe dokumentiert, wo Breyer offenbar immer wieder eingesetzt war. "Diese Recherchen gehören zu ihren großen Verdiensten", sagt Thomas Walther. Der frühere Richter war ebenfalls an der Zentralen Stelle und hatte gemeinsam mit Kirsten Goetze gegen Demjanjuk ermittelt. Er organisiert derzeit die Nebenklage gegen Breyer. Kirsten Goetze ermittelte auch gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher wie Osyp Firishchak. Der Ukrainer soll als Hilfspolizist an Mordaktionen gegen die jüdische Bevölkerung teilgenommen haben. Die Richterin, die sich schnell internationale Anerkennung erarbeitete, schloss im Jahr 2010 unter anderem ein Verfahren gegen Samuel Kunz ab, der bei den sogenannten fremdvölkischen Hilfswilligen das Vernichtungslager Belzec bewachte, wo 430 000 Menschen ermordet wurden. Ermittelt wird auf ihre Initiative auch gegen Alexeji Nagorny, der in Treblinka bei der Erschießung von mindestens 700 Menschen mitgewirkt haben soll.
Ins Gefängnis versetzt
Die Liste der laufenden Fälle, die zum Teil noch nicht öffentlich geworden sind, ließe sich fortsetzen. Aber Kirsten Goetze darf nicht weitermachen. Das zuständige Justizministerium Baden-Württemberg will die Ermittlerin weit weg schicken. Sie soll als stellvertretende Leiterin eines Gefängnisses in Schwäbisch-Hall arbeiten. Das liegt weitab von ihrem Wohnort. Die Mutter zweier Kinder hätte einen Arbeitsweg von dreieinhalb Stunden.
Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg ist eine gemeinschaftliche Organisation der Bundesländer zur Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Ihr Personal rekrutiert sie aus Richtern und Staatsanwälten, die von den Ländern abgeordnet werden. Kirsten Goetze arbeitete bis 2007 als Richterin in Stendal. Ihre Abordnung nach Ludwigsburg endete im Mai 2011, und Sachsen-Anhalt wollte sie zurück. Strafverfolger und Opfervertreter waren entsetzt.
7 Kommentare verfügbar
Anonym
am 15.09.2013jetzt möchte ich mal etwas klarstellen. Die besagte Frau Rauschenbach hieß zwar in der Tat anders, jedoch zu Lebzeiten. Zuviel dazu. Es gibt daher überhaupt keinen Sinn, zumal es ja auch noch eine andere Frau Rauschenbach gab.
Mit Mutmaßungen, nahezu Verleumdungen, sollte man ganz…