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Der verdrängte Widerstand

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Was war in Nazideutschland anständig? Das Stuttgarter Haus der Geschichte sucht Antworten, die Kontext-Autor Thomas Rothschild nicht zufriedenstellen.

Was war in Nazideutschland anständig? Das Stuttgarter Haus der Geschichte sucht Antworten, die Kontext-Autor Thomas Rothschild nicht zufrieden stellen.

Berühmt geworden ist der folgende Satz aus Heinrich Himmlers Posener Rede von 1943 vor SS-Offizieren, die an der Ausrottung der Juden beteiligt waren und von denen nach Himmlers Worten die meisten wussten, "was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen". "Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht."

Wer diesen Satz für zynisch hält, missversteht ihn und die Situation, in der er gesprochen wurde, gründlich. Er ist so aufrichtig, wie eine Äußerung nur sein kann. Er beweist lediglich, dass es für "Anstand" keine verbindliche, von allen Menschen zu jeder Zeit anerkannte Definition gibt. Wenn man wie Himmler der Ansicht ist, dass man "das moralische Recht", "die Pflicht" hat, die Juden umzubringen – eine Ansicht, die damals ein großer Teil der Deutschen teilte oder zumindest nicht für abwegig hielt –, dann ist die Beteiligung am Massenmord durchaus mit "Anstand" vereinbar. Dass diese Auffassung das Ende des Nationalsozialismus überlebt hat, belegte zum Beispiel Jörg Haiders Ulrichsbergrede von 1995, fünfzig Jahre nach Kriegsende, in der er den Veteranen der Waffen-SS "Anständigkeit" bescheinigte. Was man für anständig hält, hängt vom Wertesystem ab, das man anerkennt.

Der Widerstand – Verbrecher in der Filbinger-Ära

Offensichtlich setzt das Haus der Geschichte Baden-Württemberg ein anderes Wertesystem voraus als Himmler, wenn es eine Ausstellung "Anständig gehandelt" nennt. Anständig gehandelt haben nämlich nach der Botschaft dieser Ausstellung jene, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben – jene also, die vom späteren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger zum Tode verurteilt wurden, die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung als Vaterlandsverräter und Verbrecher betrachtet wurden.

Wenn vom Widerstand gegen das NS-Regime in Deutschland und Österreich die Rede ist, treffen zwei konträre Positionen aufeinander, die beide, verabsolutiert, die historische Wahrheit verfehlen. Die einen sagen, es habe durchaus einen erheblichen Widerstand gegeben, der aber in der Nachkriegszeit von interessierten Kreisen verheimlicht oder bagatellisiert und bewusst dem Vergessen anheimgegeben worden sei. Die anderen sagen, es habe kaum Widerstand gegeben, weil er nicht möglich, weil er zu gefährlich gewesen wäre. Die Stuttgarter Ausstellung bringt da etwas Klarheit in die Kontroverse.

Ausstellungsplakat: Haus der GeschichteSie belegt an Beispielen, dass es von 1933 bis 1945 immer wieder diverse Ansätze zum Widerstand gab. Dies dokumentiert zu haben ist ein nicht zu überschätzendes Verdienst der Ausstellungsmacher und der Katalogautoren. Nicht nur oder vielleicht nicht einmal in erster Linie aus Gründen der historischen Aufarbeitung, sondern aus Gründen der Pietät. Selten sind Erkenntnis und Moral so nah beieinander wie hier. Die Ausstellung ist selbst, was sie von ihren Objekten behauptet: anständig. Denn jene, die Widerstand geleistet haben gegen Unrecht, gegen einen verbrecherischen Staat, verdienen es, dass ihrer gedacht wird und ihre Taten gewürdigt werden. Es geschieht viel zu selten.

Zugleich aber kann gerade diese Dokumentation jenen als Argument dienen, die die Unmöglichkeit des Widerstands im Dritten Reich behaupten (und jedenfalls bis vor Kurzem noch ihr eigenes Mitläufertum damit zu entschuldigen trachteten). Die meisten in der Ausstellung beschriebenen Aktionen hatten drakonische Strafen bis hin zur Hinrichtung zur Folge. Das macht die Akteure zwar zu Helden, spricht aber auch für die Gefährlichkeit des Widerstands. Nicht jeder ist ein Held, und einfordern kann man Heldentum und Todesmut nicht, zumal wenn man selbst nicht in die Lage gekommen ist, beides beweisen zu müssen, sondern, im Gegenteil, sich bei sehr viel weniger Risiko opportunistisch verhält.

In der Ausstellung fehlen die anonymen "kleinen" Menschen

Was in der Ausstellung fehlt, sind die zahlreichen Hilfeleistungen anonymer "kleiner" Menschen. Sie, mehr noch als die "Helden", belegen, dass Zivilcourage möglich ist, dass "anständig gehandelt" wurde und werden muss, auch und gerade wo es nicht um Tod oder Leben geht. Die Heroisierung des "Anstands" liefert paradoxerweise jenen eine Ausrede, die noch nicht einmal taten, was gefahrlos möglich war. Das wirkt fort in eine Gegenwart, in der es Schleimer für unzumutbar halten, dass sie sich anständig verhalten, wenn es ihrer Karriere schaden oder ihr Einkommen schmälern könnte.

Die in ganz Deutschland durchgeführte Stolperstein-Aktion von Gunter Demnig hat gegenüber monumentalen Holocaustdenkmälern den Vorzug, dass sie für jeden Fußgänger erfahrbar macht, dass der Genozid keine abstrakte Größe war, sondern einzelne Menschen betraf, die zuvor als Nachbarn wenige Schritte entfernt gelebt hatten. Das Kleine ist da aufklärerischer als das Gigantische. Was die Stolpersteine für das Gedenken an die Opfer leisten, steht für die namenlosen Anständigen noch aus, die nicht an einer Verschwörung teilgenommen, nicht ein Attentat vorbereitet, aber im begrenzten Rahmen ihrer Möglichkeiten Verfolgten geholfen haben. Bescheidener noch: anständig zwar nicht gehandelt, aber sich verhalten haben auch jene, die auf die Unanständigkeiten, die man von ihnen erwartet hat und die so viele begingen, auf Denunziation und Vorteilnahme zu Lasten der Verjagten verzichtet haben.

Gleich wenn man den ersten Raum der Ausstellung, die noch bis Ende März 2013 zu besichtigen ist, betritt, sieht man an der Wand Fotos von Juden: Sie tragen Pelzkrägen und teure Wintermäntel, sind augenfällig wohlhabende Geschäftsleute. Da gerät die Ausstellung unverhofft in die Falle antisemitischer Klischees, da geht sie einer scheinbar antikapitalistischen Propaganda auf den Leim, mit der die Nazis, nicht ohne Erfolg, linke Arbeiter und Arbeitslose anzusprechen versuchten. Die Mehrheit der Juden, die deportiert und ermordet wurden, war nicht reich. Aber offenbar kann bis heute der "gute Bürger" eher Mitgefühl erwarten als der nach den Pogromen aus Polen und Russland eingewanderte Ostjude mit seinem schlechten Deutsch und seinem exotischen Aussehen. Der aus Galizien stammende österreichische Schriftsteller Joseph Roth hat dies schon 1927 in seinem bis heute lesenswerten Essay "Juden auf Wanderschaft" eindrucksvoll beschrieben.

In Adenauers Republik war der Deserteur keineswegs anständig

Man muss die Kellerräume, in denen der Hauptteil der Ausstellung untergebracht ist, verlassen und in den sechsten Stock steigen, um, gleichsam als Appendix, die Pointe zu finden: den Umgang mit dem Widerstand nach 1945. Und da bestätigt sich, dass es keineswegs einen Konsens darüber gab, dass nicht die Gefolgschaft und die Kollaborateure Hitlers, sondern dessen Gegner "anständig gehandelt" haben. Wer aus der Wehrmacht desertiert war oder gar mit den Alliierten gegen den Nationalsozialismus gekämpft hatte, galt in Adenauers Republik und darüber hinaus keineswegs als anständig.

Genau genommen liegt der politische Skandal weniger im Nationalsozialismus selbst, über dessen Verwerflichkeit heute weitgehend Übereinstimmung besteht, sondern in der Kontinuität nach dessen Ende, in einer Gesellschaft, von der behauptet wird, dass sie demokratisch, dass sie rechtsstaatlich, kurz: dass sie "anständig" sei. Mit Judenmord verträgt sich dieses Attribut in unseren Breiten nicht mehr. Wohl aber mit einem "Patriotismus", der moralische Werte außer Kraft setzt, wenn es den Interessen der deutschen Wirtschaft dient. Vielleicht müssen wir bloß 70 Jahre warten, bis das Haus der Geschichte eine Ausstellung organisiert über Menschen, die Widerstand leisteten gegen die Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse, gegen die Verarmung von "Randschichten", gegen die Diskriminierung von Einwanderern, gegen die Zerstörung der Städte, gegen die bedenkenlose Ausbeutung der Natur. Ihr Titel: "Anständig gehandelt".

 

Die Ausstellung "Anständig gehandelt – Widerstand und Volksgemeinschaft 1933 – 1945" ist im Stuttgarter <link http: www.hdgbw.de ausstellungen wechselausstellung anstaendig-gehandelt-widerstand-und-volksgemeinschaft external-link-new-window>Haus der Geschichte noch bis zum 31. März 2013 zu sehen.

 


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