KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

"Du schwule Sau!"

"Du schwule Sau!"
|

Datum:

Kein Gender-Wahn und kein Sexkoffer, keine desorientieren Kleinen und kein übergriffiger Unterricht: Die Leitperspektive zur "Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt" ist in den baden-württembergischen Schulen angekommen. Aber jetzt brauchen die LehrerInnen Hilfe.

Der Landesparteitag der AfD vor drei Jahren in der Horber Hohenberghalle stand ganz unter dem Eindruck der Flüchtlingspolitik. "Wir wollen nicht, dass sich unser Land verändert und wir wollen nicht, dass sich Deutschland in einem Strom fremder Menschen auflöst", sprach Alexander Gauland. Und danach gab es das Versprechen, Gender-Mainstreaming mit "all seinen Folgen wie Frauenquoten, Gleichstellungsbeauftragten und staatlicher Propaganda für sexuelle Minderheiten" abzuschaffen.

Unten im Saal stand Christina Baum, heute Abgeordnete aus dem Main-Tauber-Kreis, und beklagte wortreich, dass in den Kitas die "Schamgrenzen" von Kindern im Vorschulalter nicht beachtet würden beziehungsweise Kinderseelen belastet würden durch Indoktrinierung und einschlägige Utensilien. Baum und der Heidenheimer Abgeordnete Heiner Merz fungierten wenig später als Erstunterzeichner der "Magdeburger Erklärung", in der die Botschaft vermittelt wurde, "dass nicht Triebbefriedigung, sondern eine intakte Familie primäres Lebensziel" zu sein hat.

An entsprechender Agitation im Landtagswahlkampf war kein Mangel, was keinen anderen Schluss zulässt, als dass die AfD auch für solche Töne gewählt wurde; Baum und Merz in ihren Wahlkreisen mit überdurchschnittlichen jeweils 17,2 Prozent. Und manche in der CDU fühlten sich dem Grün-Rot-Bashing gar nicht so ferne, denn zur "Demo für alle" kamen UnionsanhängerInnen und MandatsträgerInnen ebenfalls, zum Beispiel Gemeinderäte. Inzwischen sind alle schwarzen EntscheiderInnen eingehaust, bis auf ganz wenige Ausnahmen, wie der stellvertretende Vorsitzende der CDU- Stuttgart-Ost, Karl-Christian Hausmann ("Ich bin der CDU wegen dem C") am vergangenen Wochenende. Die Grünen hatten den neuen Partner im Koalitionsvertrag festgelegt, wollten die Leitperspektiven auf ihre Praxistauglichkeit hin überprüfen.

Eisenmann will jetzt auch zur Demokratie erziehen

Als tauglich haben sich die offenbar bereits erwiesen, denn Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) will mit "Demokratieerziehung" gar eine weitere Leitperspektive einführen. Grundsätzlich läuft zurzeit die Evaluation der neuen Instrumente an 300 ausgewählten Schulen. Im Herbst, sagt ein Sprecher des Ministeriums, kämen die Ergebnisse auf den Tisch. Ohnehin gehe es nicht allein um "Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt", kurz BTV genannt, sondern "ganz allgemein" um die Anwendung im Unterricht. Und von Schwierigkeiten sei dem zuständigen Referat im Hause, das sogar ein "Funktionsbrieffach" eingerichtet habe, um Vorschläge direkt in Empfang zu nehmen, auch nichts bekannt. 

Dabei wäre es vergleichsweise einfach, die mannigfaltige Kritik zur Kenntnis zu nehmen. Zum Beispiel beim Thema Fortbildung. Gerade findet im Kulturhaus Karlstorbahnhof in Heidelberg ein Erfahrungsaustausch statt zur Frage, was zu tun ist bei Sprüchen, wie "Du schwule Sau!", wie mit sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität im Unterricht umzugehen ist, wenn man weiß, dass statistisch in jeder Schulklasse mindestens "ein bis drei direkt betroffene Jugendliche sitzen". Die Umgebung reagiere aber "oft mit Unverständnis und Ablehnung". Homosexuelle und transsexuelle Jugendliche seien häufig Diskriminierungen ausgesetzt und/oder müssten ohne dringend benötigte Unterstützung auskommen. Die zweitägige Veranstaltung ist überbucht.

Natürlich, sagen Fachleute, weil die Nachfrage groß ist, das Angebot aber mager. Nur SchulpsychologInnen bekämen eine Fortbildung und demnächst eine Handreichung, klagt die GEW in einem Positionspapier. Für die Umsetzung von BTV durch das Kultusministerium im Unterricht "gibt es keine für uns erkennbare Unterstützung für die Lehrkräfte".

Grün-Schwarz müsste sich nur an den Aktionsplan "Für Akzeptanz und gleiche Rechte" erinnern. Der stammt aus grün-roten Tagen, ist von der damaligen Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) angeschoben worden und hat sogar Eingang in den Vertrag der Kiwi-Koalition gefunden, die sich dieser Tage wortreich und an unterschiedlichen Orten für ihre Zwischenbilanz feiert. "Die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die volle gesellschaftliche Teilhabe setzen voraus, dass jeder Mensch, ungeachtet seiner sexuellen und geschlechtlichen Identität, gesellschaftliche Achtung erfährt und sein Leben ohne Benachteiligungen und Diskriminierungen leben kann", schreiben die ungleichen Partner unter der Überschrift "Gleichstellung verwirklichen".

Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) lobte beim diesjährigen Christopher-Street-Day-Empfang die "ganz starken Zeichen", die Baden-Württemberg setze. Jeden Tag gelte es aufs Neue "hart um Toleranz und Vielfalt zu ringen und dafür zu kämpfen, denn die sind nicht in Stein gemeißelt". Eine noch von Altpeter angestoßene Studie weist darauf hin, dass "die expliziten Angebote für LSBTTIQ-Jugendliche zum größten Teil aus der LSBTTIQ-Community selbst kommen (...) und in der sonstigen Jugend(sozial)arbeit kaum verankert sind".

Die Lehrkräfte sind auf sich allein gestellt

Der Brückenschlag zum Kultusministerium würde sich anbieten, weil auch die Schulbücher einseitig auf die Zweigeschlechtlichkeit angelegt sind. Warum das so ist, wollte die Grünen-Landtagsabgeordnete Brigitte Lösch vor der Sommerpause von der Behörde wissen und bekam nur wolkige Antworten: "Entsprechend der Zulassungsvoraussetzungen für Schulbücher in Baden-Württemberg müssen diese mit den Vorgaben des jeweiligen Bildungsplans bzw. Lehrplans übereinstimmen. Bezüglich der Leitperspektiven, auch BTV, bedeutet dies, dass das Werk in seiner Gesamttendenz klar den Leitperspektiven des Bildungsplans verpflichtet sein muss. (...) In welcher Art und Weise die Schulbuchverlage die bezüglich der Leitperspektiven genannten Anforderungen umsetzen, obliegt ihrer Verantwortung." 

Manches offenbart - ungewollt vermutlich - den eklatanten Nachholbedarf. Gerade zweimal ist bisher ein "mehrtägiger Lehrgang" zum Thema "Vielfalt der geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung" angeboten worden. Und die Kultusministerin meint hervorheben zu müssen, dass er "2020 ein weiteres Mal stattfindet". Intern verweisen sich Interessierte gegenseitig auf die funktionierenden und detaillierten Verlinkungen im Bildungsplan und zu den einzelnen Fächern. Was allerdings auch bedeutet, dass Lehrkräfte auf sich selbst gestellt sind oder den Austausch über gewonnene Erkenntnisse im Wesentlichen in ihrer Freizeit organisieren müssen.

Selbst die vom Ministerium empfohlene Liste des Landesmedienzentrums umfasst zu BTV, wie die GEW herausgefunden hat, zwar viele Medien, aber vorwiegend zu den anderen Aspekten von Vielfalt, wie Behinderung oder Migration und nur sechs Angebote zu LSBTTIQ. Und die zur Fortbildung empfohlenen "MOOC Massive open online course" enthalten dazu nicht ein einziges Modul.

Dabei ist der nächste Aufreger in den Augen jener, die immer noch Hemmungen im offenen Umgang haben, längst programmiert. Das Bundesverfassungsgericht hatte im vergangenen November einer intersexuellen Klägerin recht gegeben und verlangt, dass es im Behördenregister künftig neben männlich und weiblich einen dritten Geschlechtseintrag geben muss. Christina Baum hatte nach dem höchstrichterlichen Spruch aus Karlsruhe eine reaktionäre Botschaft. "Eines weiß ich jedoch ganz sicher, und das beruhigt mich sehr", rief sie den anderen vier Fraktionen im Plenarsaal zu, "Sie können noch so viel Geld in die Hand nehmen, gegen die Natur kommen Sie trotzdem nicht an."


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


4 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 21.09.2018
    Antworten
    Frauenquoten – Gleichstellungsbeauftragte – Minderheiten – Desorientierung

    Diese kleine [b]Orientierung[/b] aus dem 19. Jahrhundert, die in unserer Verfassungsurkunde des freien Volksstaates Württemberg [b]vom 20. Mai 1919[/b] niedergeschrieben steht – heute ebenso noch niedergeschrieben…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!