Um das Zusammenleben auf eine breitere Basis zu stellen, empfiehlt Brettschneider "innovative Formate", um sich zu treffen und auszutauschen. Als Beispiel nennt der Professor Friedrichshafen, wo der größte und ungewöhnlichste der 54 Versuche unternommen wurde, Kontakte zum Wohle aller zu knüpfen. Ein sogenannter Frühstücksbus fuhr – im Auftrag der Stadt und nach einem von Studierenden erarbeiteten Konzept acht Tage lang – gezielt in Hochburgen von AnwohnerInnen mit Vorbehalten. Bei Brezeln, Kaffee, Saft und Äpfel "schwätzt sich's viel leichter", weiß der örtliche Grünen-Landtagsabgeordnete Martin Hahn und erzählt von zahlreichen positiven Rückmeldungen. "Das ist Herzensbildung", habe einer der Zufallsgesprächspartner gelobt und versprochen, die Idee der "unkomplizierten Gespräche zu komplizierten Themen" weiterzutragen.
Das will auch Gisela Erler. Die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft hat sich mit ihrem Team daran gemacht, die Flüchtlingsdialoge zu Nachbarschaftsgesprächen fortzuentwickeln: "Wir erreichen damit eine kleinräumige Beteiligung." So kommt eben der Berg zum Propheten. Etwa in Pforzheim, bei einem der Pilotvorhaben des Staatsministeriums. "Der aufsuchende Ansatz ist geprägt von Wertschätzung, von Vertrautheit und im Idealfall vom gemeinsamen Handeln", heißt es in einer Analyse. Eine Aussprache "über den Gartenzaun", mit VertreterInnen der Verwaltung, mit Ehrenamtlichen, Flüchtlingen aus der Nachbarschaft bringe nicht nur überraschende Erkenntnisse. Aufsuchende Beteiligung könne zudem gesamtstädtische Planung "perfekt ergänzen".
Mit Unmut und Unzufriedenheit sei auf diese Art und Weise viel besser umzugehen, erläutert die Staatsrätin – "gebetsmühlenhaft", wie sie selbst über sich sagt. Die Menschen würden nicht nur in der angestammten Umgebung angehört, sondern bekämen direkte Antworten auf direkte Fragen. "Leute, die Flüchtlinge hassen, können wir nicht erreichen", sagt Erler, "aber diejenigen, die vor sich hin motzen und die in Gefahr sind, den Populisten auf den Leim zu gehen, die finden Gehör." Vom Gefühl der Selbstwirksamkeit sprechen Psychologen. Und die Staatsrätin will im Vorfeld des Hasses ackern und "denen zuhören, die meinen, es hört ihnen niemand zu".
Beste Erfahrungen, ebenfalls eher kleinräumig, hat das Vorarlberger Büro für Zukunftsfragen gesammelt. Seit mehr als zehn Jahren koordiniert es Beteiligung, Engagementförderung oder die zufällig und per Melderegister zusammengestellten BürgerInnenräte. Im großen Stil geht Irland zu Werke. Seit 2012 ist dort die Bürgerversammlung oder "Citizens' Assembly" institutionalisiert. Vor allem zwei Ratschläge sorgten für internationale Aufmerksamkeit: Das Ja zur Homo-Ehe, nachdem – in westlichen Demokratien ohne Beispiel – auf Basis der gemeinsamen von ZufallsbürgerInnen entwickelten Vorstellungen die Verfassung geändert wurde, und das Nein zum Abtreibungsverbot. In dem erzkatholischen Land bestätigte es im Mai 2018 ein Referendum mit über 66 Prozent der Stimmen.
Der Zufall als Ziel
Brettschneider nennt es in seiner Analyse "erstrebenswert", Bürgerbeteiligung in Richtung Zufallsauswahl weiterzuentwickeln. Die Staatsrätin will mit dem Verfahren gezielt neue Gruppen weit über die Flüchtlingsintegration hinaus für politisch und gesellschaftlich relevante Fragen zunächst interessieren und dann ihre Vorschläge aufnehmen. Europadialoge laufen bereits. Ausdrücklich angesprochen sind auch Gruppen ohne Wahlrecht, weil deren Ansichten in der repräsentativen Demokratie keinen Niederschlag finden.
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