Wenn er diesmal nach Stuttgart kommt, wartet eine spezielle Herausforderung auf den eloquenten Wuppertaler. Er muss sein Vorgehen an jenem 19. November in Baden-Württembergs Landesvertretung am Tiergarten so erklären, dass sein Publikum nachher wenigstens einigermaßen überzeugt ist davon, dass der Verzicht aufs Mitregieren seriös durchdacht und tatsächlich inhaltlich geboten war. Gar nicht erst aufkommen lassen darf seine Rede den Verdacht, da habe ein selbstverliebter Ehrgeizling nicht genügend patriotisches und moralisches Format gehabt, um sich ins Regierungsjoch zu bequemen.
Seit Lindners Abstinenzerklärung sind in der digitalen und der realen Welt ganze Folianten vollgeschrieben worden mit Berichten über die vier Sondierungswochen, über die Gespräche in großen und kleinen Kreisen. Und über zwischenmenschliche Details, etwa wie sich FPD-VerhandlerInnen daran störten, dass CDU-Kanzleramtsminister Peter Altmaier mit fast allen Grünen am Tisch auf Du und Du steht. Oder wie den WortführerInnen der anderen drei Parteien erst nach und nach dämmerte, wie verschrumpft die Sachkompetenz der FDP nach den vier Jahren ohne Bundestagsmandate daherkam.
Wie wurde binnen 24 Stunden aus dem Ja ein Nein?
Für eine zentrale Info könnte Lindner beim heurigen Dreikönigstreffen persönlich sorgen: Was da eigentlich passiert ist zwischen dem frühen Sonntagabend, als Generalsekretärin Nicola Beer vor laufenden Kameras noch verkündet durfte "Die FDP würde Ja sagen", und dem Nein des Vorsitzenden um 23 Uhr 47. Schließlich schrieb er keine 24 Stunden später in einem Mitgliederbrief: "Es hat sich gezeigt, dass die vier Partner keine gemeinsame Idee zur Gestaltung des Landes und keine gemeinsame Vertrauensbasis erreichen konnten."
Dabei hatte der studierte Politikwissenschaftler, der schon mit 17 die Liberalen Schüler in NRW anführte, die Blaupause gerade hinter sich. Nach der Wahl in Düsseldorf zierte sich die FDP, angeblich, wie Lindner selber wenig plausibel berichtet, weil noch am Wahlabend versucht worden sei, "uns sofort und bedingungslos für eine Koalition mit der CDU zu vereinnahmen". Von wem, lässt er im Dunkel. Dann trifft er Armin Laschet zufällig, postet ganz nach dem Motto "Digital first, Bedenken second" ein Smiley, und einen Monat danach ist der Koalitionsvertrag unter Dach und Fach. Trotz der anfänglich großen Skepsis des Chefverhandlers, die er ausdrücklich nicht als bloße Taktik missverstanden sehen wollte.
Ein gewieftes Kerlchen, für das sich der frühere Generalsekretär hält und das er auf seine Weise auch ist, hätte Nektar saugen müssen aus den Verhandlungserfahrung in Düsseldorf und mit einer präzisen Strategie in die Gespräche in Berlin gehen können. Selten war Peer Steinbrücks Spruch "Hätte, hätte Fahrradkette" angebrachter. Wenn nicht doch die These stimmt, die Karten des früheren Unternehmensberaters seien von Anfang an gezinkt gewesen und zu überschaubar seine Lust, unter Angela Merkel zu dienen.
CDU-Unterhändler können jedenfalls umfangreich auflisten, wie weit die Union der FDP in den letzten Verhandlungstagen und -stunden entgegenkam. In allen internen Gesprächen mit der Kanzlerin, berichtet ein Eingeweihter, sei es nie um Kompromisse mit den Grünen gegangen, "sondern immer nur um die Frage: Was können wir noch für Lindner tun?"
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