Nach acht Jahren trauten sich die Neonazis ein erstes Mal nach Westdeutschland, im neunten nun zum ersten Mal in den Süden der Republik. "Es ist kein Zufall, dass ihre Wahl auf Karlsruhe fiel", sagt Esen. Ohne aktive Unterstützer vor Ort sei die Organisation einer Veranstaltung dieser Größenordnung nicht möglich. Und Karlsruhe hat eine Vorgeschichte mit rechtsextremen Aufmärschen. Mehr als drei Dutzend dieser Art hat es hier alleine in den vergangenen zwei Jahren gegeben. Das ist ein Negativ-Rekord für Süddeutschland. Allerdings hatten die Veranstaltungen von Kargida oder "Karlsruhe wehrt sich" wenig Zulauf. Zuletzt liefen dort nur knapp 20 Rechte herum. Oberbürgermeister Frank Mentrup (SPD) erklärte gegenüber Kontext im vergangenen Dezember, er wolle sich "nicht von Nazis den Terminkalender diktieren lassen" und könne daher nicht regelmäßig bei den Gegendemonstrationen auftauchen. Er versicherte: "Wenn es größere Aktionen gibt, mobilisieren wir. Dann bin ich auch selbst vor Ort, gerne als Redner."
Das Karlsruher Stadtoberhaupt hat Wort gehalten. Die Stadtverwaltung ruft unter dem Titel "Karlsruhe zeigt Flagge" zur Gegendemo auf, und der Oberbürgermeister spricht als erster am Samstag, um 12:30 Uhr am Bahnhof Karlsruhe-Durlach. Ihm folgen die Staatssekretärin und Landtagsabgeordnete Bärbl Mielich (Grüne) und Martin Kunzmann, der Landesvorsitzende des DGB. Weil zeitgleich zum internationalen Aufmarsch der Rechten der Christopher Street Day in Karlsruhe stattfindet (Motto: Bunte Liebe statt Brauner Hass), ist auch die Travestiekünsterlin Rosa Opossum auf der Bühne. Bemerkenswert ist eine ungewohnte Einigkeit beim Schulterschluss der Parteien: Ebenfalls reden werden VertreterInnen von CDU, SPD, Grünen, FDP, Piratenpartei und die Linke.
Angeblich sogar der AfD zu rechts
Selbst der parlamentarische Arm der neurechten Bewegung will, wenigstens augenscheinlich, nichts mit dem Happening für Neonazis zu tun haben. Zumindest der Karlsruher AfD-Ortsverband distanziert sich von der Veranstaltung. Er lehne "sowohl Rechts- als auch Linksextremismus entschieden" ab, ist in der Pressemitteilung zu lesen. Doch es gibt etliche Beispiele, die <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik sein-name-ist-hase-4321.html internal-link-new-window>zumindest an der Glaubwürdigkeit des ersten Teils dieser Aussage kratzen. Und Thorsten Heise, einer der großen Skandalredner des vergangenen Jahres, ist ein persönlicher Bekannter und "Gesprächspartner" von Björn Höcke, <link http: www.taz.de external-link-new-window>wie dieser einräumt.
Der NPD-Kader Heise hätte <link http: blog.zeit.de stoerungsmelder tag-der-deutschen-zukunft-neonaziaufmarsch-in-dortmund_21841 external-link-new-window>laut einem Bericht auf "Zeit Online" aufgrund der Auflagen und seiner Vorstrafe wegen Volksverhetzung im vergangenen Jahr eigentlich gar nicht in Dortmund auftreten dürfen. Das konnte er trotzdem ungehindert, und nutzte die Gelegenheit prompt, revisionistische Propaganda zu verbreiten: Im Konzentrationslager Buchenwald (knapp 270 000 Inhaftierte, davon circa 56 000 Todesopfer) seien, so Heise, während der Zeit des Nationalsozialismus weniger Menschen umgekommen als anschließend unter den Besatzungsmächten. Im Gegensatz zu den heute herrschenden Versagern hätten früher "weitsichtige deutsche Politiker ihre Politik noch auf tausend Jahre ausgelegt". Für die Polizei war das, <link http: www.taz.de external-link-new-window>wie die "taz" berichtet, kein Grund zu intervenieren. Ebenso wenig wie Transparente der Teilnehmenden, auf denen Slogans zu lesen waren wie "Demokraten bringen uns den Volkstod", "Nationaler Sozialismus heißt Menschlichkeit" oder auch einfach nur "Hitler".
In anschließenden Pressemitteilungen der Polizei gab es dazu kein Wort. Mehrfach kritisiert wurden dort allerdings Aggressionen von "rund 3.000 Unverbesserlichen" aus dem linksautonomen Spektrum: "Genau wie es vorher angekündigt wurde, prägte Militanz das Vorgehen. Erreicht hat diese Gruppe nichts!", liest man inklusive dieser Interpunktion in den offiziellen Meldungen. Auch in Karlsruhe geht Polizeipräsident Günther Freisleben von 200 bis 300 gewaltbereiten Neonazis und 1000 gewaltbereiten, davon "100 extrem gewaltbereiten" Antifaschisten aus. Er will daher die ganz großen Geschütze auffahren, um die Lager weiträumig zu trennen. Gelingen soll das mithilfe von Absperrgittern, Wasserwerfern und über 3000 Beamten im Einsatz. Das wären nicht nur genug, um nahezu jedem Demonstranten eine Individualbetreuung zukommen zu lassen. Es handelt sich für Baden-Württemberg auch um einen der größten Polizeieinsätze der vergangenen Jahrzehnte. Vielleicht gelingt bei dieser Personalstärke, was die KollegInnen in Dortmund versäumten: Volksverhetzung auf offener Bühne zu unterbinden.
1 Kommentar verfügbar
Nina Picasso
am 04.06.2017Von über 4.000 Demonstranten spricht das "Aktionsbündnis 3.6.2017", von gut 2000 die Polizei: Jedenfalls standen zwischen 200 und 300 Neonazis aus dem ganzen Bundesgebiet in Karlsruhe-Durlach am Samstag - durch Polizeiabsperrungen…