Wie sehr die eingerissenen Sitten der offiziellen Bedeutung der Regierung im Parlament widersprechen, belegt ein Blick in die Geschäftsordnung des Landtags. "Regierungsvertreter müssen auf ihr Verlangen jederzeit gehört werden", heißt es in Paragraph 82. Offenbar geht er von vollen statt von leeren Regierungsbänken aus. Fünf Abgeordnete reichen aus für den Antrag, einen Minister oder den Ministerpräsidenten höchstpersönlich in den Saal zu zitieren. Stattgegeben wird dieser erzieherischen Maßnahme allerdings nur, wenn eine Mehrheit der anwesenden Parlamentarier dafür votiert, was angesichts des satten grün-schwarzen Stimmenüberhangs unwahrscheinlich ist, selbst wenn viele fehlen.
Die Landesregierung sei sich eben "in einem Maße wie keine vor ihr, der bedingungslosen Unterstützung der Koalitionsfraktionen sicher", sagt FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke. Sie wisse, "dass die Landtagsmehrheit alles abnickt und zeigt dem Parlament ostentativ ihre Missachtung". Rülke nennt Kretschmann und den stellvertretenden Ministerpräsident Thomas Strobl abgehoben, weil sie nicht einmal versuchten, "den Eindruck zu erwecken, man interessiere sich noch für die Volksvertretung".
Tatsächlich hat sich ein unschöner Mechanismus entwickelt: Wenn Kretschmann fehlt, entweder "dienstlich entschuldigt" oder weil er in seinem an Plenartagen in den Landtag verlegten Ministerpräsidentenbüro anderen Pflichten nachgeht, ist auch Strobl nur zu gern abwesend. Mit den Regierungsspitzen schwänzen auch ihre wichtigsten Vertrauten, vorrangig Staatsminister Klaus-Peter Murawski und Martin Jäger, der aus Berlin eingeflogene Staatssekretär, sowie mit ihnen die zuständigen Beamten. Wie der Regierungschef hat allerdings auch sein Vize eine völlig andere Wahrnehmung. "Selbstverständlich" nennt es Strobls Sprecherin Nadia El Almi, "dass Plenartage hohe Priorität genießen". Gleichzeitig gehöre es dazu, "dass am Rande des Plenums Gespräche, gerade auch mit Parlamentariern, stattfinden".
Minister an Plenartagen gerne auf Reisen
Zwei – willkürlich – gewählte Tage, an denen sich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit exemplarisch zeigte: Am 22. März debattierte der Landtag auf Antrag der CDU den maladen Zustand der EU unter der Überschrift "60 Jahre Römische Verträge – Europa neu beleben". Aus "dienstlichen Gründen" entschuldigt waren: der Ministerpräsident und sein Stellvertreter, der Staatsminister, Wirtschaftsministerin Nicole Hofmeister-Kraut und Staatsrätin Gisela Erler. Die Letzteren sind auch schon aufgefallen, weil sie an Plenartagen auf Reisen gehen. Hoffmeister-Kraut war – zugegeben schon vor ihrem Amtsantritt geplant – mit einer großen Wirtschaftsdelegation in Singapur und Vietnam, ein Kennenlern-Termin, den sich die Newcomerin nicht entgehen lassen wollte. Die Staatsrätin in ihrem Selbstverständnis als Libera fährt nach der Pfingstpause für zwei Tage nach Rom und – gemeinsam mit Anstiftern – nach Sant'Anna di Stazzema, ehrenwert, aber nicht unbedingt notwendig in einer Plenarwoche.
Nicht wirklich attraktiv war das Parlament auch am 11. Mai, als der Landtag unter Tagesordnungspunkt eins immerhin den Klimawandel und unter zwei die Situation in Frankreich nach dem Sieg von Emmanuel Macron diskutierte. Diesem zweiten Thema mochte – Aktualität, Brisanz und Sonntagsreden über den hohen Stellenwert der gutnachbarschaftlichen Beziehungen hin oder her – einzig und allein der zuständige Europamister Guido Wolf (CDU) beiwohnen, bis auch Verkehrsminister Hermann im Plenarsaal eintraf. Kein Ministerpräsident, kein Innenminister, keine Finanzministerin, keine Kultusministerin, keine Wissenschaftsministerin, kein Sozialminister, kein Umwelt- und kein Agrarminister gab sich die Ehre. Mit Ausnahme von Strobl und Susanne Eisenmann (CDU) sind alle Genannten übrigens auch direkt gewählte Abgeordnete in ihren Wahlkreisen, Kretschmann (Nürtingen) selber mit nicht weniger als 35 Prozent der Stimmen, Edith Sitzmann (Freiburg II) und Theresia Bauer mit über 40 Prozent.
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Wolfgang Zaininger
am 01.06.2017