"Zukunft wird aus Mut gemacht", heißt der Titel des Programmentwurfs für die Bundestagswahl. Mut ist gefragt, um nicht zu sagen: Übermut, wenn intern und nach außen ein Ergebnis zwischen neun und zehn Prozent am 24. September als realistische Perspektive ausgegeben wird. Denn in Berlin und anderswo kursieren Rohdaten namhafter Demoskopen, wonach die CDU wieder oberhalb von 40 Prozent liegt und die SPD – immerhin – nahe an 30. Die Liberalen dürfen in diesen ausdrücklich als Momentaufnahmen gekennzeichneten Erhebungen die Zweistelligkeit in den Blick nehmen. Und die Grünen die Fünf-Prozent-Hürde. Der düstere Befund animiert einen das Gras wachsen hörenden Karikaturisten wie Thomas Plaßmann, der in der Frankfurter Rundschau einen Käfer auf dem Rücken liegen und verzweifelt "Flieg, Käferchen! Flieg!" rufen lässt, während das beobachtete Kleingetier "Autosuggestion" und "tragische Geschichte" diagnostiziert.
So weit ist es noch lange nicht. Informierte Kreise wissen, dass Angela Merkel eine Koalition mit den Grünen jeder anderen vorziehen würde, also sowohl der Großen als auch einer mit der FDP dieses kecken, machtbewussten, neoliberale Botschaften versprühenden Christian Lindner. Die zarten Bande im Hintergrund, nach Stuttgart und zu Winfried Kretschmann, den sie auf der Beliebtheitsskala gerade wieder überholt hat, sind längst geknüpft. Von Kretschmann mit seinem 30-Prozent-Landtagswahlergebnis im Rücken ist ohnehin bekannt, welche Koalitionskonstellation er anstrebt, weil er zu wissen meint, die Zusammenarbeit mit der Union sei in Zeiten wie diesen gerade die richtige. Selbst seine Realo-Freunde wünschen sich inzwischen aber mehr öffentliche Zurückhaltung bei der direkten oder subkutanen Verbreitung seines Credos. "Existenzieller kann die Malaise nicht mehr zutage treten", schreibt die "Süddeutsche", nachdem Cem Özdemir und "sein politischer Ziehvater" dieser Tage aneinandergeraten waren, eben wegen Kretschmanns kritischer Zwischenrufe in Richtung linker Störenfriede in NRW und anderswo. Vielleicht drohe "sogar ein Desaster".
Kretschmann verteilt ungefragt ideologische Noten
Der grüne Superstar, der für bundesweite Auftritte im Bundestagswahlkampf schon überbucht ist, hatte per Interview wieder einmal ohne Not ideologische Noten verteilt, diesmal an den Landesverband in NWR: "Da gibt es immer einen gesinnungsethischen, einen idealistischen Überschuss, und das kann leicht nach hinten losgehen." So weit, so schlecht. Dass aber er, der seit Jahrzehnten bei Bedarf innerparteilich immer mal wieder als Polarisierer hervortrat, nun plötzlich mahnt, die Flügel zusammenzuhalten ("Daran arbeite ich mich seit 35 Jahren ab. Klappt nicht immer"), ließ so manchem den Hut hochgehen. Im Netz kursieren ganze Listen von Gegenbeispielen. Ungefragt empfahl er beispielsweise die Abschaffung einer Doppelspitze. Zur Steuerpolitik ging er schon 2012 und 2016 auf Gegenkurs. Beim Thema Flüchtlinge riskierte er zumindest den öffentlichen Eindruck, wichtige Werte zu verraten. Und mit kritischen Bemerkungen über eine angebliche Neigung seiner Partei zu wählervergraulenden Zwangsbeglückungsideen sparte der weltweit einzige grüne Regierungschef auch nicht.
"So sollten wir vom linken Flügel einmal mit ihm umgehen", kommentiert einer im Netz, "da wäre Feuer unterm Dach." Das lodert ohnehin. Der Partei geht es so schlecht wie lange nicht mehr. Die Analysen der drei Landtagswahlen der vergangenen Wochen zeigen, dass sie überhaupt nur in einem einzigen Thema die Meinungsführerschaft für sich beanspruchen kann: in der Energiepolitik. Und da werden die Erfolge sogar zum Bumerang, weil zu viele Wähler und Wählerinnen diese Materie im Wesentlichen für erledigt halten und auf gutem Gleis befindlich. Selbst das zweistellige Ergebnis in Schleswig-Holstein kann – mit Blick auf den Bund – nicht wirklich entspannen. Außer in der Energiepolitik nennen nur mickrige Teile der Wählerschaft die Grünen, wenn nach guten Lösungen für Themen wie Bildung, soziale Gerechtigkeit, Verkehr oder Flüchtlinge gefragt wird.
Natürlich will sich die Partei nicht anmerken lassen, wie ihr die Felle davonschwimmen. "Das Programm ist prall gefüllt mit guten Ideen", heißt es auf ihrer Homepage zur Mitgliedermotivation. Gepriesen werden das Klimaschutzgesetz, ein Einwanderungsgesetz, das saubere Auto ab 2030, ein Hilfsprogramm für 10 000 Schulen oder ein Zwölf-Milliarden-Euro-Paket für Familien. Und an anderer Stelle heißt es: "Sei motiviert und gib alles! Ohne Euch können wir die Wahl nicht gewinnen." Das Problem könnte sein: Vom Hocker reißt das niemanden. Und Figuren wie Robert Habeck in Schleswig-Holstein oder Winfried Kretschmann, die das kompensieren könnten mit ihrer Ausstrahlung, hat die Partei auf Bundesebene nicht aufzubieten.
Die Konturen der Grünen verschwimmen
Baden-Württembergs Landesverband steht in besonderer Verantwortung, weil nach Expertenmeinung hier mindestens 13 Prozent gebracht werden müssen, um die angestrebten neun bis zehn Prozent bundesweit zu erreichen. Zentrale Forderungen wird Kretschmann aber – wenn überhaupt – auf keinen Fall mit Herzblut unter die Leute bringen: von der "verfassungsfesten, ergiebigen und umsetzbaren Vermögenssteuer für Superreiche" bis zu dem "klaren Ziel", dass "ab 2030 nur noch abgasfreie Autos vom Band rollen" sollen und "das Zeitalter der fossilen Verbrennungsmotoren dann zu Ende ist". Die Formulierungen sind noch vorläufig, zum Wahlprogramm liegen 2000 Änderungsanträge vor. 500 davon gelten als inhaltlich relevant. Möglicherweise wird so mancher, beim Münsteraner Parteitag im Spätherbst 2016 mühsam gebastelter Kompromiss noch einmal aufgeschnürt.
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Bruno Neidhart
am 26.05.2017