Die Frage war schnell zu beantworten: Die in ihr enthaltene Unterstellung stimmte nicht. In den leistungsfähigsten Nationen – gemeint waren natürlich die USA oder Japan oder die Tigerstaaten – war es mitnichten die Regel, dass 17-Jährige Abitur und 24-Jährige ihr Diplom machen. Damals nicht und heute nicht. Aber Tatsachen interessierten kaum. Die Büchse der ideologischen Wettbewerbs-Pandora war geöffnet. Wer dagegen hielt, musste sich als ahnungslos oder von vorgestern beschimpfen lassen. Die Diskussion über den acht- und den neunjährigen Weg zum Abitur wurde Lackmustest dafür, ob Deutschland fähig ist zum verlangten Ruck oder doch eher nicht.
Ende der Neunziger waren Schul- und WissenschaftspolitikerInnen aus dem baden-württembergischen Landtag auch deshalb in den Eliteschmieden an der amerikanischen Ostküste zu Besuch, an der Havard-University in Boston oder am Massachussetts Institute of Technology (MIT). Eine hochrangige Riege von US-Professoren riet dringend davor ab, die Schulzeit zu verkürzen. Zu spät. Elternverbände waren auf den G8-Zug aufgesprungen. Der neu erfundene Wettbewerbsföderalismus mit seinen Überbietungsmechanismen und die erste PISA-Studie taten ein Übriges.
Für ein Drittel der Schüler ist G8 das Richtige
Dass Baden-Württemberg in der Diskussion über die Länge der Schulzeit immer im Fokus stand, hing zusammen mit jenem ersten Schulversuch, der 1991 begann und ursprünglich bessere und beste SchülerInnen fördern sollte. Wären seine Ergebnisse ernst genommen und in der gebotenen Ruhe umgesetzt worden, hätten sich alle Beteiligten fast zwei Jahrzehnte quälender Debatten erspart. Wissenschaftlich belegt wurde nichts anderes als das, was Vernünftige ohnehin schon vermutet hatten: Ein Teil der Jugendlichen, etwa 30 Prozent, ist im G8 am richtigen Platz, für die anderen wäre es besser, es bei neun Jahren zu belassen. Immer mehr Eltern wetterten damals jedoch gegen die Zweigleisigkeit, weil G9 als Gymnasium zweiter Klasse missverstanden und in Misskredit gebracht wurde. Jetzt will der bildungspolitische Schwadroneur Seehofer in seinem schönen Bayern just für rund 30 Prozent der Schüler und Schülerinnen – sogenannte Überholer – den Weg zum achtjährigen Abitur freihalten. Und in Hessen, wo Schwarz-Grün die kostspielige Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 wieder eingeführt hat, wählen 70 Prozent der Jugendlichen von sich aus den längeren Weg zur Hochschulreife.
Apropos Hochschulreife: Auch die vor allem von neoliberalen InteressenvertreterInnen aus dem Arbeitgeberlager heftig befeuerte Debatte über die angebliche Überreife deutscher Schul- und Hochschulabsolventen hat sich längst in ihr Gegenteil verkehrt. Mittlerweile wird gejammert über minderjährige Jugendliche, die zu wenig und zu schnell gelernt und zu billig Abitur gemacht hätten. Dabei war es Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, der seinerzeit massiv auf eine Schulzeitverkürzung drängte und – mit der ersatzlosen Streichung des Referendariats – zugleich die Lehrerbildung rasieren wollte. Natürlich unter dem Applaus jener Teile der Elternschaft, die immer schon wussten, dass sowieso nur Faulenzer in den Lehrerberuf drängen.
Schlauer: Bildungspolitik in Rheinland-Pfalz
Es ist hinderlich für alle bildungspolitischen Debatten, von der Schulstruktur bis zur Grundschulfremdsprache, wie immer neue Elterngenerationen mit wachsender Vehemenz das Beste für ihr Kind einfordern und zugleich nur wenig wissen wollen von Analysen, Studien oder auch nur den Ratschläge der Fachwelt. Dass aber PolitikerInnen auf solche Expertenbefunde nicht hören wollen, ist grob fahrlässig, gefährlich und offenbar unveränderlich. Sonst müssten die neuerlichen Reformdebatten ganz anders laufen und längst Kniewallfahrten nach Rheinland-Pfalz stattfinden.
9 Kommentare verfügbar
Peter S.
am 24.04.2017Das ist hier eben nicht so, denn diese deutsche G8 Implementierung hat nur dazu geführt, daß alle Beteiligten mehr Stress haben und…