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Ein schlafloses Jahr

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Die Deutsche Bahn sprengt sich durch den Degerlocher Untergrund. Rund um die Uhr, weil laut Projektsprechern keine Kompromisse drin sind. Der Lärm lässt Anwohnern keine Ruhe, auch nicht nachts. Jetzt wollen Betroffene wegen Körperverletzung klagen.

Die handschriftlichen Notizen auf mehrfach gefaltetem Recyclingpapier dokumentieren eine lange Liste des Leidens: Samstag, 11. März, 04:27 Uhr. Sonntag, 12. März, 01:59 Uhr. Montag 13. März, 02:04 Uhr und 05:34 Uhr. Die Zeiten schreibt sich Fritz Bender immer dann auf, wenn ihn die Sprengungen aus dem Schlaf reißen. "So läuft das jetzt schon fast ein Jahr", sagt der 74-Jährige. Nacht für Nacht.

Bender wohnt mit Frau und Tochter in einer gutbürgerlichen Doppelhaushälfte in Degerloch, in der Pfullingerstraße im südlichen Randbereich des Stadtbezirks. "Eigentlich sind wir hier ja sehr verwöhnt", sagt Bender, in der begehrten Höhenlage für Gutbetuchte, mit viel Grün und wenig Verkehr. Doch etwa 130 Meter tiefer sprengt sich die Deutsche Bahn durch die Filderebene, um mit knapp 10 000 Tunnelmetern Stuttgart über Wendlingen mit Ulm zu verbinden, und das rund um die Uhr. Etwa alle vier bis fünf Stunden wird das Dynamit gezündet, auch an Sonn- und Feiertagen. S21-Projektsprecher Jörg Hamann hat schon im vergangenen November gegenüber dem SWR klar gemacht, die Bahn werde mit den Bewohnern "an dieser Stelle keine Kompromisse eingehen" und verwies auf objektive Messdaten, denen zufolge das mit den Sprengungen schon in Ordnung gehe.

Dagegen allerdings sprechen die Aussagen der Anwohner. Fritz Bender etwa kommt sich "in meinem Schlafzimmer vor wie auf einem Schiff", wenn ihn das Wackeln der Wände weckt. Am Anfang hätten sich viele Nachbarn im Viertel noch gegenseitig verdächtigt. "Wer schlägt denn um diese Zeit noch Nägel in die Wand, habe ich mich gefragt", erzählt Bender. Doch der Krach wurde über Wochen hinweg immer penetranter. "Manchmal hört sich das an wie ein Maschinengewehr", klagt der Ingenieur im Ruhestand. Viel schlimmer als die Erschütterung sei "dieser unerträgliche Lärm, an den man sich einfach nicht gewöhnen kann". Sollte für die Bahn alles nach Plan laufen, wird es mit den Sprengungen so noch bis zum kommenden September weitergehen.

Das habe es in Degerloch noch nicht gegeben, sagt Bender, und die Gegend kennt er gut. Hier ist er groß geworden und geblieben. Bis auf sein Studium in Tübingen hat er Stuttgart nie verlassen. Heute lebt er in dem Elternhaus, in dem er aufgewachsen ist. Erinnerungen haben sich angesammelt, die Wände sind überall dicht bestückt mit Fotografien, Zeichnungen und Gemälden. Bender zeigt auf ein paar gerahmte Bilder aus Ägypten, seinem Lieblingsreiseziel, die im Wohnzimmer hängen. "Die hat die Bahn noch nicht zum Absturz gebracht", sagt er und lächelt gequält. Dort, an einem rundlichen Tisch, saß Bender in den vergangenen Wochen oft zusammen mit dem Rechtsanwalt Ulrich Ebert und Gerald Kampe, Professor im Ruhestand und selbst betroffener Anwohner. Häufigstes Thema: Kritik an "Deutschlands dümmstem Großprojekt", so die einhellige Meinung der drei.

Auf Beschwerden folgt Behörden-Pingpong

Ebert ist im Arbeitskreis Juristen zu Stuttgart 21 aktiv – und kennt daher viele, denen die Begleiterscheinungen des Bauprojekts das Leben schwer machen. Die gibt es bekanntermaßen nicht nur in Degerloch. Hier aber will der Rechtsanwalt nun Kampe, Bender und den anderen betroffenen Bewohnern helfen, ihr Recht auf Ruhe durchzusetzen. Briefe hat er geschrieben an die Stadt Stuttgart, das Eisenbahnbundesamt, an die Regierungspräsidien im Umkreis, das Innenministerium, die Landeskirchen und sogar an Ministerpräsident Winfried Kretschmann persönlich, um zu klären, warum die Bahn an Sonntagen und zu Unzeiten sprengen darf. "Meistens folgt dann ein bemerkenswertes Behörden-Pingpong", sagt der Anwalt.

Vergangenen November haben er und die zwei Leidgeplagten die Bahn wegen Ruhestörung bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft angezeigt. Die fühlte sich aber nicht zuständig, weil es sich dabei nicht um eine Straftat, sondern nur eine Ordnungswidrigkeit handelt, und leitete die Angelegenheit an die Stadt weiter. Diese beauftragte dann die Bußgeldbehörde, die Lage zu prüfen, und von der wiederum gibt es seit Monaten keine Rückmeldung. "Wer sonntags den Rasenmäher anwirft, wird sofort zur Rechenschaft gezogen", ärgert sich Ebert. "Aber die Bahn darf sich alles erlauben."

Kampe und Bender nicken wütend. Die beiden Ingenieure engagieren sich bei den Degerlocher Obenbleibern, einer etwa 30-köpfigen Gruppe aktive Kritiker von Stuttgart 21. Nächsten Dienstag, am 24. April, wollen sie die Bahn zur Rede stellen, dann schicken sie Vertreter in den Bezirksbeirat. Hier haben Kampe und Bender schon oft Fragen gestellt. Auch für die kommende Woche erwarten sie sich, abgebügelt zu werden. "Meistens ist das die reinste Rabulistik", meint Kampe. "Bei S21 kann man sich doch auf keine Aussage mehr verlassen." Er und Bender sind nicht erst Projektgegner, seitdem die Bauarbeiten der Bahn ihre Nachtruhe torpedieren. Am 30. September 2010, dem "Schwarzen Donnerstag", waren die beiden mit ihren Kindern im Schlosspark und wurden Zeugen der Brutalität, mit der die Staatsmacht rechtswidrig gegen friedliche Demonstranten vorging. Das habe sein Bild vom bürgernahen Staat zum ersten Mal grundlegend erschüttert, sagt Bender heute: "Vielleicht war ich vorher auch einfach naiv."

Ohne Grenzwert keine Überschreitung

Noch im vergangenen September hat S-21-Projektsprecher Jörg Hamann betont, die rechtsstaatlichen Vorschriften würden "zu 100 Prozent eingehalten". Wie aber Messprotokolle der Bahn zeigen, überschritten die Erschütterungen im vergangenen halben Jahr regelmäßig Grenzwerte, im Extremfall sogar um fast das Dreifache des Zulässigen. Konsequenzen hatte das bislang keine. Zudem wird die nächtliche Lärmbelastung, die nach Schilderungen der Anwohner das eigentliche Problem darstellt, gar nicht erst erfasst.

Ein Sprecher der Bahn, der namentlich nicht genannt werden will, sagt dazu auf Rückfrage der Redaktion, dass es beim Tunnelvortrieb keine gesetzliche Regelung diesbezüglich gebe: "Insofern kann es auch zu keiner Überschreitung eines zulässigen Grenzwertes kommen." Eine bestechende Logik: Wo keine Vorschrift, da keine Messung, da kein Problem. Unstrittig ist allerdings, dass die Explosionen mindestens in einem Radius von rund 300 Metern hörbar sind, und der Schall durch die Röhrenstruktur des Tunnels noch verstärkt wird. Gerade nachts wird das zur Zumutung, klagen nicht nur Kampe und Bender.

Nach Auskunft der Bahn sei es üblich oder gar unverzichtbar, beim Tunnelvortrieb rund um die Uhr zu sprengen. "Das ist weltweiter Standard", lässt ein Sprecher wissen. Denn die Baustellen jedes Mal über Nacht zu sichern, würde einen riesigen Aufwand und enorme Zusatzkosten bedeuten. Im Albabstiegstunnel, ebenfalls in Bauherrschaft der Bahn, ist allerdings genau das geschehen: Um die Anwohner zu schonen, wurde bei den Bauarbeiten im Ulmer Lehrer Tal zwischen 22 Uhr und 6 Uhr nicht gesprengt. Und auch im Fildertunnel gab es gerade erst zur Osterzeit Ruhe: Zwischen Gründonnerstag und Ostermontag wurden keine Sprengungen durchgeführt, nach Absprache mit der Evangelischen Landeskirche. Die hätte sich zwar laut Sprecher Oliver Hoesch noch "weitergehende Ruhezeiten gewünscht, als jetzt zugesagt wurden", aber immerhin habe man eine "pragmatische Lösung" gefunden.

Kompromisse kann die Bahn anscheinend nicht verkraften

Ulrich Ebert zeigt sich enttäuscht von den Kirchen, die laut dem Anwalt einfordern könnten, wenigstens die Sonn- und Feiertagsruhe konsequent einzuhalten. "Bei S21 will sich aber keiner die Finger verbrennen. Obwohl schon der ganze Handschuh brennt." Die Osterruhe bei Ulm zeigt jedoch: Auf Sprengungen zu Unzeiten zu verzichten ist technisch nicht unmöglich, sondern allenfalls ökonomisch unerwünscht. "Geld geht vor Gesundheit", ärgert sich Ebert und vermutet: "Die Bahn ist so dermaßen hintendran mit ihrem Zeitplan, dass sie das Projekt jetzt umso rücksichtsloser vorantreiben muss." In bestem Beamtendeutsch erklärt der Bahnsprecher damit im wesentlichen übereinstimmend, beim Albabstiegstunnel in Ulm habe es – offensichtlich im Gegensatz zum Fildertunnel – "ausreichend Zeitreserven" gegeben, "um eine Reduzierung der Vortriebsleistung durch Restriktionen im Nachtzeitraum zu verkraften". Für Degerloch hingegen gilt wohl weiterhin: Keine Kompromisse.

Die Konsequenzen treffen die Anwohner. Laut Benders Hausarzt sind durch die nächtlichen Sprengungen Schlafrhythmus und -qualität des 74-Jährigen massiv gestört, in Folge träten "erhebliche Konzentrationsstörungen" auf, auch in Verbindung mit einer erhöhten Sturzgefahr. "Der Kaffee nutzt da auch nichts mehr", sagt Bender. Er gibt noch Erste-Hilfe-Kurse für die Malteser, wo er nun seit fast sechs Jahrzehnten ehrenamtlich arbeitet. Immer häufiger musste er in den vergangenen Monaten krankheitsbedingt ausfallen. Kampe, Ebert und Bender bereiten nun eine zweite Anzeige bei der Staatsanwaltschaft vor. Diesmal geht es nicht nur um Ruhestörung, sondern um Körperverletzung. Da es sich hierbei nicht mehr um eine Ordnungswidrigkeit handelt, müsste die Behörde eigenständig ermitteln. "Das ist unsere letzte Hoffnung", sagt Kampe. "Wobei ja auch die Staatsanwaltschaft ihre Bügeleisen hat." 


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13 Kommentare verfügbar

  • Marla Mayering
    am 26.04.2017
    Antworten
    @Jupp
    Versteckte S21Kosten und was alles wichtiger ist als Kinder...
    ".....ein neues, großes Elefantendomizil für eine ganze Herde. Der Grund für die räumliche Veränderung: unter dem künftigen Elefantenstandort wird kein Tunnel für Stuttgart 21 gebohrt. Die Dickhäuter reagieren nämlich empfindlich…
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