KONTEXT:Wochenzeitung
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Charmanter als Fahrverbote

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Seit dem ersten Feinstaubalarm im Herbst steht fest, dass Stuttgart auch in diesem Jahr wieder gegen EU-Recht verstößt. Dabei gäbe es einfache und praktikable Lösungen. Etwa den Ausbau des Park-and-Ride-Systems.

Nach astronomischen Kriterien hat das Winterhalbjahr am 23. September begonnen. Gefühlt spielt die Zeitumstellung, seit 1996 am letzten Oktobersonntag, eine ebenso wichtige Rolle. Stuttgart definiert die kalte Jahreszeit neuerdings noch einmal anders: durch Feinstaubalarm. Die Zeit, in der mit Ausrufen des Alarmzustands zu rechnen ist, beginnt am 15. Oktober und endet am 15. April.

Wenn erhöhte Feinstaubwerte drohen, die über dem Grenzwert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter liegen, appelliert die Landeshauptstadt seit Anfang des Jahres an die Autofahrer, doch bitte ihr Fahrzeug zu Hause zu lassen und sich auf andere Weise fortzubewegen. Flankierende Maßnahmen wie vergünstigte ÖPNV-Tickets sollen das Umsteigen erleichtern.

Bis Mitte April gab es fünfmal Alarm, an insgesamt 22 Tagen. An 16 von diesen Tagen hat die <link https: www.stadtklima-stuttgart.de stadtklima_filestorage download luft feinstaubwerte-januar-bis-oktober-2016.pdf external-link-new-window>Rekordmessstation Neckartor die Latte trotzdem gerissen, ebenso an weiteren 14 Tagen ohne Feinstaubalarm. Mit vereinzelten weiteren Tagen im Mai und September waren nun zu Beginn der nächsten Alarmsaison 34 Überschreitungstage erreicht. 35 sind zulässig. Doch bereits am Freitag waren es schon 36 Tage.

Die EU-Kommission droht bereits seit zwei Jahren mit Klage. Anwohner am Neckartor haben sich im April mit dem Regierungspräsidium (RP) auf einen Vergleich geeinigt. Demnach muss das RP, wenn das Problem bis dahin nicht gelöst ist, bis 1. Januar 2018 verkehrsbeschränkende Maßnahmen einführen.

Verwaltungsgericht verhängt Frist von nur einem Monat

Allerdings könnte es nun doch schneller gehen. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) klagt ebenfalls, wegen erhöhter Stickoxidwerte (NOx). In Düsseldorf hat sie damit kürzlich einen vollen Erfolg eingefahren. Das Gericht beschied, Fahrverbote gegen Diesel-Fahrzeuge seien so schnell wie möglich auszusprechen. Nun macht auch das Stuttgarter Verwaltungsgericht Druck. Nicht erst Ende August 2017, wenn der aktualisierte Luftreinhalteplan vorgestellt werden soll, nein sofort, innerhalb eines Monats, wollen die Richter wissen, welche verkehrsbeschränkenden Maßnahmen geplant sind.

Stickoxid ist nicht gleich Feinstaub. Seit 2010 gilt die verschärfte Regelung, dass der Grenzwert von 200 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft nur noch 18 statt 175 Stunden im Jahr überschritten werden darf. Das ist am Neckartor immer noch der Fall, anderswo sind die Werte seit 2014 gesunken. Hauptverursacher sind Dieselabgase. Eine blaue Plakette für besonders umweltfreundliche Fahrzeuge, wie von der Landesregierung gewünscht, hat der Bund abgelehnt. Ohnehin fragt man sich, was angesichts der Tricksereien und fehlenden Kontrollen von "sauberen" Dieselmotoren zu halten ist. Von einem Verbot wäre freilich der komplette Baustellen- und Lieferverkehr betroffen: Fast alle Lkw haben nun mal Dieselmotoren.

Aber das Feinstaubproblem am Neckartor lässt sich mit einem Dieselverbot allein ohnehin nicht lösen. Nur sechs Prozent des Feinstaubs am Neckartor, <link https: www.stadtklima-stuttgart.de external-link-new-window>Stand 2013, stammen aus den Autoabgasen vor Ort, dazu noch ein Prozent aus dem Umland. Nur 45 Prozent des Feinstaubs entstehen direkt an der B 14, davon aber zwei Drittel, das sind 31 Prozent der Gesamtmenge, aus Aufwirbelungen, Reifen- und Bremsabrieb. Fünf mal so viel wie aus dem Auspuff.

In diesem Punkt sind Elektroautos keinen Deut besser. Bisher auch nicht für das Klima: Batterieherstellung und Stromerzeugung mitgerechnet, fällt <link https: www.ifeu.de verkehrundumwelt pdf texte_27_2016_umweltbilanz_von_elektrofahrzeugen.pdf external-link-new-window>die Bilanz derzeit ähnlich aus wie beim Diesel, etwas besser als beim Benziner. Lediglich die Stickoxide verschwinden. Aber die Feinstaubwerte am Neckartor könnten, selbst wenn nur noch Fahrzeuge mit Elektroantrieb unterwegs wären, um nicht mehr als sechs Prozent zurückgehen. Bezogen auf den Grenzwert von 50 Mikrogramm sind das drei Mikrogramm pro Kubikmeter.

Bei Messwerten bis 53 Mikrogramm würde also ein vollständiges Verbot von Verbrennungsmotoren helfen, den Grenzwert einzuhalten. Bei Werten darüber nicht. An acht Tagen im Januar lagen die Werte sogar mehr als 50 Prozent über dem Grenzwert. Mit sauberen Motoren lässt sich da nichts ausrichten. Nur ein völliges Fahrverbot könnte Abhilfe schaffen.

Verkehrsaufkommen senken ist einzige echte Lösung

Es wird auf Dauer unvermeidlich sein, das Verkehrsaufkommen zu senken. 20 Prozent weniger streben Stadt und Land an. An Feinstaubalarm-Tagen. Warum so zögerlich? Mit Feinstaub ist nicht zu spaßen. Er verursacht, wie medizinische Untersuchungen zeigen, Herz- und Kreislauferkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall. Die Partikel sammeln sich im Körper an: Bis zu 60 Prozent werden nicht wieder abgegeben. Deutschlandweit hat das Umweltbundesamt jährlich 47 000 vorzeitige Sterbefälle durch Luftschadstoffe errechnet.

Das Problem besteht auch nicht nur am Neckartor. Am Marienplatz, am Olgaeck, an der Heilbronner Straße – überall an den großen Durchgangsstraßen liegen die Werte ähnlich hoch wie am Neckartor, <link https: www.stadtklima-stuttgart.de external-link-new-window>wie Berechnungen zeigen, die das städtische Amt für Umweltschutz in Auftrag gegeben hat. Und von den 34 Überschreitungen bis Mitte Oktober lagen ganze 17 außerhalb der Tage des Feinstaubalarms.

Ein entschlosseneres Vorgehen ist nötig. Den Autoverkehr im Talkessel zu reduzieren, und zwar nicht nur an Feinstaubalarmtagen: Das könnte ein Anfang sein, um Stuttgarts anerkannt größte Bausünde, den Umbau zur "autogerechten Stadt" in den 1960er-Jahren, zu reparieren. Fast die Hälfte der Stuttgarter nutzen auf dem Weg zur Arbeit bereits jetzt den öffentlichen Verkehr. Sie leiden wie alle anderen unter den Emissionen. Die Verkehrsplaner reden längst davon, nur nicht in Stuttgart: Der motorisierte Individualverkehr hat in den Innenstädten eigentlich nichts verloren. Es gibt intelligentere Arten, den Verkehr zu organisieren.

Stuttgart ist die einzige Stadt in Deutschland, die einen grünen Oberbürgermeister, einen grünen Ministerpräsidenten und seit 1. Juni mit Wolfgang Reimer auch einen grünen Regierungspräsidenten vorweisen kann. Aber Kuhn und Reimer bleiben zurückhaltend. Sie warten auf Anordnung des einen oder anderen Gerichts, dann liegt der Schwarzen Peter nicht bei ihnen. So ganz ist es ihnen nicht zu verdenken. Der frühere CDU-Bürgermeister Klaus Lang nutzt die "Bild"-Zeitung, um gegen den "Feinstaubalarmismus" zu wettern, den die Grünen aus seiner Sicht nur benützen, um das Automobil zu diskreditieren. Die CDU will noch mehr Straßen, wenn nötig auch unter der Erde.

Autoindustrie fortschrittlicher als CDU

Da ist selbst die Automobilindustrie schon weiter, die mit Firmentickets oder anderen Vergünstigungen für Mitarbeiter ihr durch den Dieselskandal angekratztes Image aufpolieren will. Oder die Industrie- und Handelskammer (IHK), die im April noch vor möglichen Fahrverboten gewarnt hat, nun aber zu erkennen beginnt, dass es mit dem Motto "Augen zu und durch" nicht mehr weitergeht. In einer <link https: www.stuttgart.ihk24.de presse pressemitteilungen ihk-pressemitteilungen_2016 oktober-bis-dezember_2016 gem--pm-verkehr external-link-new-window>gemeinsamen Pressemitteilung der IHK und der Handwerkskammer betonen beide: "Die beiden großen Wirtschaftskammern in der Region Stuttgart wollen die Landeshauptstadt in ihrem Kampf um bessere Luft unterstützen."

Die Kammern geben zwei sehr wichtige Hinweise: Der erste betrifft den gewerblichen Verkehr. Es bedarf einer besseren Organisation des Zulieferverkehrs, insbesondere der "letzten Meile" vor der Auslieferung. Derzeit kommt es immer noch häufig vor, dass Zulieferer mit ihren Lkw die Kunden einzeln abklappern. Der Verkehr mit Feinstaub produzierenden, klimaschädlichen großen Dieselmotoren ließe sich erheblich einschränken, wenn die Ware an Verladestationen am Stadtrand abgeladen und anschließend gesammelt ausgeliefert würde. Dazu kämen <link http: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft pedalkraftmeier-3694.html external-link-new-window>auch Lastenräder in Betracht, darauf hat der Arbeitskreis Innenstadtlogistik der IHK schon vor vier Jahren hingewiesen.

Der zweite wichtige Hinweis: Das Park-and-Ride-System gehört überarbeitet. Das <link http: www.vvs.de no_cache rundum-mobil unterwegs park-ride uebersicht-aller-p-r-angebote external-link-new-window>bestehende Angebot ist auf die S-Bahn abgestimmt, doch nicht wenige Parkhäuser sind dauerhaft ausgebucht: Backnang zum Beispiel, ganz besonders wichtig als Endstation der S 3, von der aus das weitere Umland nur noch begrenzt mit dem Bus erreichbar ist. Weiter entlang der Linie sind auch Nellmersbach, Schwaikheim, Winnenden, Fellbach und Sommerrain permanent belegt: Fast die gesamte Strecke nach Stuttgart, Maubach zu 95 Prozent, lediglich in Neustadt-Hohenacker finden sich noch einige Plätze.

Nicht ganz so schlimm ist es an der Strecke der S 1, aber Kirchheim ist ebenfalls voll, Ötlingen ebenso. Wendlingen und Wernau haben noch freie Plätze, Plochingen nur sehr wenige. Altbach, Zell und Oberesslingen sind voll, in Esslingen und Mettingen gibt es überhaupt keinen Park-and-Ride-Platz. Wer findig ist, könnte nach Obertürkheim fahren, dort gibt es auf dem Parkplatz am Bahnhof 167 Stellplätze zum Preis von 1,50 Euro pro Tag.

S-Bahnen sind zu teuer

Wer von hier aus mit der S-Bahn weiterfährt, zahlt hin und zurück zur Stadtmitte mit dem Einzelticket 5,60, insgesamt also 7,10 Euro. Parkhäuser in der Stadtmitte kosten aber in der Regel nur zwischen 1,50 und 2,50 Euro pro Stunde. Wer nicht länger als zwei bis drei Stunden in der Stadt bleiben will, fährt also in der Regel billiger mit dem Auto. An den Stadtbahnlinien gibt es bis auf wenige Ausnahmen überhaupt keine Park-and-Ride-Standorte, obwohl sie zum Teil bis weit aufs Land hinausfahren.

Gäbe es an allen Haltestellen außerhalb des Talkessels ausreichend Park-and-Ride-Plätze und würde das Parken dort einschließlich ÖPNV-Ticket deutlich weniger kosten als ein Platz im Parkhaus im Zentrum, hätte sich ein Großteil des Feinstaubproblems schnell erledigt. Nur der öffentliche Verkehr müsste dann schnell und deutlich ausgebaut werden. Notfalls könnte Stuttgart von den unwilligen Autofahrern eine Abgabe erheben und die Einnahmen dafür verwenden. Oder um die Ticketpreise zu senken. Eigentlich charmanter als Fahrverbote.


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18 Kommentare verfügbar

  • Velo Fisch
    am 13.12.2017
    Antworten
    Noch mehr kostenlose Parkplätze bereit stellen ist sicher nicht der richtige Weg. Bereits jetzt zahlen Anwohner viel Geld für Straßen, öffentliche Parkplätze und private Stellplätze, die dann von den Autofahrer_innen kostenlos oder stark subventioniert genutzt werden können. Andersherum wird ein…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 13 Stunden
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