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Der Klagensammler

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Es ist eines der größten Wirtschaftsverfahren in der deutschen Justizgeschichte. Seit April 2001 klagen rund 17 000 Kleinaktionäre gegen die Deutsche Telekom, und jetzt, gut 15 Jahre später, erwartet Andreas W. Tilp das Urteil. Der Anwalt der Aktionäre plädiert für Sammelklagen nach US-Vorbild.

Herr Tilp, geht der Telekom-Mammutprozess nach über 15 Jahren endlich zu Ende?

Nein, leider noch nicht. Nach der Verhandlung in der vergangenen Woche haben wir bis 17. November Zeit, weitere Schriftsätze einzureichen. Am 30. November will dann der Senat eine Entscheidung verkünden, die in zwei unterschiedliche Richtungen gehen kann. Entweder er verkündet einen Musterentscheid, oder es geht erneut in die Beweisaufnahme. Nach einem Musterentscheid wird die unterlegene Partei sicher Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof einlegen. Hiesige Kläger müssen sich wohl noch bis ins Jahr 2020 gedulden, bis sie Schadenersatz bekommen.

Das klingt ziemlich siegessicher?

Wir werden gegen die Telekom gewinnen. Wenn nicht jetzt sofort vor dem Frankfurter OLG, dann am Ende des Tages durch eine höchstrichterliche Entscheidung des BGH. In den USA übrigens hat die Telekom bereits 2005 rund 120 Millionen US-Dollar auf den Tisch gelegt, um amerikanische Anleger zu entschädigen.

Der Musterkläger aus Reutlingen, den Sie vertreten, hat von einem Sieg allerdings nichts mehr.

Neben allen noch lebenden Klägern profitieren selbstverständlich auch die Erben des Musterklägers von einer rechtskräftigen Entscheidung in unserem Sinne. Denn alle Ansprüche werden vererbt, zuzüglich der gesetzlichen Verzugszinsen. Deshalb dürfte sich jeder Anspruch aus dem dritten Börsengang der Telekom bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung auch verdoppelt haben.

Solch lange Verfahrensdauern waren wohl nicht im Sinne des sogenannten Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes, kurz KapMuG, das dem Prozess zugrunde liegt?

Das KapMuG wurde im Jahr 2005 quasi als Lex Telekom beschlossen, um Massenverfahren wie zum dritten Börsengang des Konzerns überhaupt "handlebar" zu machen. Nicht nur die lange Verfahrensdauer zeigt, dass es versagt hat. Es konnte auch die Verfahrensflut nicht wirksam reduzieren. So wurden insgesamt 2700 Klagen von 917 Anwälten gegen die Telekom eingereicht. Das KapMuG muss entweder weg oder richtig reformiert werden, das habe ich deshalb schon früh gefordert. Reagiert hat der Gesetzgeber im November 2012 mit einer Gesetzesreform, die mir aber immer noch nicht weit genug geht. Sie soll KapMuG-Prozesse unter anderem kostengünstiger für die Kläger machen. Und sie soll die Verfahren beschleunigen, was sich bereits im aktuellen VW-Fall beobachten lässt. Musterklagen sollten künftig nach spätestens drei Jahren beim Oberlandesgericht entschieden sein.

Schaut man Ihre Kanzlei-Homepage an, dann sitzen dort mit Porsche, VW und Hypo Real Estate lauter namhafte Unternehmen auf der Anklagebank. Ist die deutsche Wirtschaft eine kriminelle Vereinigung?

Siemens und der Schmiergeldskandal, die Deutsche Bank und die unseriösen US-Immobiliengeschäfte, VW und Dieselgate – all diese Unternehmen haben das Recht gebrochen und den Rechtsbruch sogar kalkuliert. Meist systematisch und über einen längeren Zeitraum. Ich bin nur der Anwalt, der im Auftrag der geschädigten Kläger Geld zurückholt. Die Skandale induzieren aber auch eine andere Fragestellung: Sind börsennotierte Unternehmen heutzutage überhaupt noch in der Lage, auf ehrliche Weise, nach Recht und Gesetz, ihr Geld zu verdienen? Und dabei ordentliche Gewinne zu erwirtschaften? Oder zwingt sie etwa eine überzogene Renditeerwartung der Anteilseigner zu solchen krummen Geschäften? Das sind auch politische Fragen, auf die es bislang kaum Antworten gibt.

Stichwort VW-Dieselgate: Hier dürfen bislang nur Kapitalanleger, deren Aktien durch den Abgasbetrug an Wert verloren haben, dank Musterklagen auf Schadenersatz hoffen. Hiesige Autobesitzer, deren Fahrzeuge durch die Manipulation an Wert einbüßen, schauen bislang in die Röhre. Erst jetzt wurde bekannt, dass Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CDU) Ende 2015 eine Gesetzesinitiative zur Einführung von Sammelklagen blockierte.

Es ist nicht nachvollziehbar, dass es keine Art KapMuG für Autohalter gibt. Wir fordern seit Langem die Einführung von Sammelklagen nach US-Vorbild, doch Deutschland spielt auf der EU-Ebene bislang den großen Verhinderer. Das amerikanische Rechtssystem ist hier viel durchschlagender. Die sogenannte "Pre Trial Discovery" in einem Sammelklageverfahren verpflichtet die Parteien dazu, also Kläger und Beklagte, alle Unterlagen offenzulegen. Da bleibt nichts mehr unter dem Tisch – was der Wahrheitsfindung dient. Diesen Offenbarungszwang gibt es in Europa nur ansatzweise im angelsächsischen Justizsystem, also in Großbritannien und in Irland. Nicht aber in Deutschland. Es ist doch verrückt, dass 600 000 amerikanische Autobesitzer 13 Milliarden Dollar von VW bekommen, aber 10,5 Millionen europäische Fahrzeughalter kriegen nichts!

Prominente Stimmen wie Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung" warnen vor Sammelklagen. Sie befürchten, dass hohe Entschädigungszahlungen Firmen und Unternehmen in die Pleite treiben und Tausende Arbeitsplätze gefährden könnten.

Ich frage Sie: Kann ein Schaden so groß sein, dass der Schadenersatz einen üppig verdienenden Konzern vollständig in die Knie zwingt? Folgt man dieser Logik, dann müssten Sie nur einen möglichst großen Schaden anrichten, um am Ende nichts bezahlen zu müssen. Wir dürfen nicht vergessen: Der Kläger ist nicht der böse Aggressor. Seine Klage ist nur die Reaktion auf eine Schädigung seitens eines Unternehmens. Zunächst ist diese auch nur eine gefühlte Schädigung. Wie hoch und groß der Schaden tatsächlich ist, darüber entscheiden unabhängige Gerichte.

Als Gegenargument für Sammelklagen nach US-Vorbild dient oft auch, dass diese eine Klageindustrie schaffen würden, die sich aus rücksichtslosen und gierigen Kanzleien und Anwälten rekrutiert.

Das sind Zerrbilder über das amerikanische Justizsystem, die vor allem Leute malen, die keinen tiefer gehenden Einblick haben. Ich kenne keine alte Frau, die ihre Katze zum Trocknen in die Mikrowelle gesteckt und nach dem Ableben des Tieres die Herstellerfirma verklagt hat. Auch ich bringe etliche Kilo auf die Waage und verklage deshalb nicht die Lebensmittelindustrie, deren Produkte ich konsumiere. Und dass Anwälte nur im Erfolgsfall verdienen, ist doch gut für den Verbraucher. In Deutschland verdienen Anwälte dagegen immer, vor allem die Anwälte der Schädigerindustrie. Aber trotz der angeblich exorbitanten Entschädigungssummen in Sammelklageverfahren scheint die Abschreckungswirkung in den USA auch nicht zu funktionieren. Denn die Unternehmen sehen sich weiter mit Prozessen konfrontiert, weil ihre Produkte fehlerhaft sind oder nicht das halten, was sie in der Werbung versprechen. Was jedoch in den USA funktioniert, ist die Kompensation von Schäden: Die Verbraucher bekommen dort leichter und schneller einen finanziellen Ausgleich, wenn Unternehmen Fehler auf ihre Kosten machen.

 

Andreas W. Tilp (53) studierte Jura in Tübingen, wo er auch seine Kanzlei gründete. Heute hat diese ihr Domizil im benachbarten Kirchentellinsfurt, firmiert als TILP Rechtsanwaltsgesellschaft mbH und ist auf Bank- und Kapitalmarktrecht spezialisiert. Tilp vertritt ausschließlich Anleger und Investoren. 2004 gründete er mit der TILP PLLC eine Anwaltskanzlei in New York, es folgten weitere TILP-Kanzleien in der Schweiz und auf Madeira. Tilp ist Dozent bei der Deutschen Anwaltsakademie. Als Sachverständiger begleitete er Anhörungen im Deutschen Bundestag und bei der EU-Kommission, unter anderem bei der Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG).


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