So dürfte sich Jörg Meuthen den Start in sein neues Leben als Oppositionsführer im Stuttgarter Landtag nicht vorgestellt haben. Der 55-jährige Volks- und Finanzwissenschaftler gibt sich gerne moderat und distanziert sich für gewöhnlich vom rechtsextremen Vokabular der Ultras in den eigenen Reihen. Er ist nicht nur der Chef der 23 Landtags-Neulinge, sondern gibt auch den Beauftragten für vergleichsweise zivilisierte Umgangsformen. Das "freundliche Gesicht der AfD" nannte ihn die FAZ kürzlich nach einer TV-Talkshow. Er sei kein Brandstifter, so Meuthen im Januar in der "Stuttgarter Zeitung". Es sei vielmehr so: "Ich bin in tiefer Sorge um unser Land. Das driftet auseinander – und zwar gehörig."
Was die Retter*innen "unseres lieben Deutschlands", die Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum Auftakt der Legislaturperiode unmissverständlich als "rechtsnational" einstufte, selbst heftig befördern. Reden, Interviews, die ersten Anträge, vor allem die Facebook-Seiten jener, die sich als Internet-Aktivisten betätigen, belegen, wie über die vielzitierten Altparteien, die Lügenpresse oder das Gutmenschen-Deutschland gepostet und gepöbelt wird. Der schon aus dem Stuttgarter Gemeinderat sattsam bekannte Heinrich Fiechtner stößt im Netz wüste Tiraden gegen Claudia Roth, Cem Özdemir oder die neue Landtagspräsidentin Muhterem Aras aus. Als Schriftführer direkt neben ihr sitzend, hat er sie ungeniert fotografiert, das Bild gepostet und es erst nach einem Tadel der Landtagsverwaltung wieder entfernt.
Die AfD-Truppe übt sich nach Kräften, auf Grüne, CDU, SPD und FDP einzuprügeln und schwänzt auf der anderen Seite Podiumsdiskussionen und politische Termine. Schon in der vierten Sitzungswoche der Legislaturperiode spart sich die Fraktion ihr regelmäßiges Treffen. Weil vier oder fünf Abgeordnete eben abwesend sind, erläutert ihr Chef.
Ein zentrales Objekt immer neu entfachter AfD-Empörung ist auch Angela Merkel, in der virtuellen wie in der realen Welt. "Kanzlerdiktatorin" nennt sie der Rechtsaußen aus Thüringen, Björn Höcke. "Merkel muss weg", antwortet der Kehler AfD-Abgeordnete Stefan Räpple auf eine Journalistenfrage zum Auftakt jener Fraktionssitzung, die sich am gestrigen Dienstag keineswegs mit der Kanzlerin, sondern mit der Zukunft des Singener Abgeordneten Wolfgang Gedeon befassen sollte.
Was wird aus Ultra Gedeon? Ausschluss ungewiss
Und die bleibt vorerst ungewiss. Nur wenn sich die Antisemitismus-Vorwürfe gegen Gedeon (siehe dazu <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik gefaehrlicher-quatsch-3693.html internal-link-new-window>"Gefährlicher Quatsch") erhärten ließen, erläuterte Meuthen, würden Konsequenzen für den 69-jährigen Arzt folgen. Der Ko-Vorsitzende der Partei trägt zwar den Antrag auf Ausschluss aus der Fraktion mit, sieht aber die Zwei-Drittel-Mehrheit nicht, die eine entsprechende Entscheidung in zwei Wochen bräuchte. Die "eleganteste Lösung" wäre, sagt der Kehler Professor, wenn Gedeon die Vorwürfe entkräften könnte.
Meuthen versucht auf mehreren programmatischen Hochzeiten zu tanzen. Am Wochenende darf Höcke ihn als "meinen verehrten Freund" beim zweiten Kyffhäusertreffen der parteiinternen Gruppierung "Der Flügel" vor den Ruinen der ehemaligen Reichsburg begrüßen. Alle Berührungsängste hat Meuthen da abgestreift. "Der Flügel" versteht sich als "Rückversicherungsgemeinschaft unserer AfD", als Garant dafür, dass sich die Partei als "letzte evolutionäre Chance für unser geliebtes Vaterland" verstehe, sagt Höcke. Er macht keinen Hehl daraus, dass er selber mal Bundeskanzler werden will, er nennt die Altparteien "inhaltlich entartet" und Winfried Kretschmann "unverehrt, kalt und vollkommen empathielos", weil der in den Unwettergebieten nicht wie ein Kaiser mit dem Geldsack auftreten wollte, wie er selber gesagt hat. Das Zitat ist zwar aus dem Zusammenhang gerissen, was aber Meuthen nicht hindert, damit Stimmung zu machen: Die harschen Worte seien "für einen Landesvater unwürdig".
Die Scheinwelt der Zahnärztin aus Lauda
Es ist aber nicht immer diese Mischung aus Schiefem, aus Halbwahrheiten und Ausflüchten – etwa wenn Alexander Gauland öffentlich behauptet, von Jérôme Boatengs Hautfarbe nichts gewusst zu haben. Die AfD-Vertreter schrecken auch vor Fälschungen nicht zurück. Ein eindrückliches Beispiel für ihr Leben in der Scheinwelt lieferte vergangene Woche Christina Baum, die im Wahlkreis Main-Tauber mit 17,2 Prozent gewählte promovierte Zahnärztin. Sie hat zwei Töchter und zwei Enkel, betreibt seit 25 Jahren mit ihrem Mann eine Gemeinschaftspraxis in Lauda-Königshofen und ist seit drei Jahren AfD-Mitglied, mittlerweile aufgestiegen zur stellvertretenden Landesvorsitzenden. Ernsthaft hält sie für möglich, dass in London Frauen durch Muslime versteigert werden. Jedenfalls postete sie ein entsprechendes Video, um es wenig später wieder zu entfernen: "Hiermit möchte ich mich für meinen Post heute morgen bezüglich der Versteigerung von Frauen durch Muslime in London entschuldigen." Es sei nicht ersichtlich gewesen, "dass es sich hierbei um eine Inszenierung handelte, die Kurden in London ins Leben gerufen haben, um vor den Gefahren des IS, auch in Europa, zu warnen".
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Rolf Steiner
am 11.06.2016