KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Nicht alles ist verjährt

Nicht alles ist verjährt
|

Datum:

Die schallenden Ohrfeigen, die das Verwaltungsgericht Stuttgart mit seiner eindeutigen Sicht auf den Polizeieinsatz am Schwarzen Donnerstag ausgeteilt hat, sollten in Politik und Justiz durchaus schmerzen. Ob sie allerdings auch Konsequenzen zeitigen werden, ist immer noch offen.

Bisher hat das Land Baden-Württemberg jedwede Zahlung von Schadensersatz oder Schmerzensgeld verweigert. Ebenso hat es die grün-rote Landesregierung abgelehnt, sich bei den Opfern zu entschuldigen, mit dem Argument, das Ganze sei unter der Verantwortung der Vorgängerregierung passiert. Nunmehr könnten zumindest die Kläger in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht alsbald Entschädigungszahlungen vor dem Zivilgericht einklagen. Allerdings kann darauf nur hoffen, wer solche Klagen in der Vergangenheit bereits erhoben hat, denn zivilrechtlich ist unsicher, ob Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen des Schwarzen Donnerstags nicht schon verjährt sind. Voraussichtlich muss diese Frage in einem Musterprozess geklärt werden.

Voraussetzung, um sich auf das Urteil des Verwaltungsgerichts beziehen zu können, ist freilich, dass dieses rechtskräftig wird. Das Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil eine Berufung ausgeschlossen. Gegen die Nichtzulassung der Berufung könnte der Beklagte, das Land Baden-Württemberg, Widerspruch einlegen – mit großer Chance, dann auch in die nächst höhere Instanz zu gelangen. Nach Zustellung der schriftlichen Urteilsbegründung hat man dafür einen Monat Zeit. Allerdings deuten erste Aussagen nach Verkündung des Urteils darauf hin, dass es wohl akzeptiert werden soll.

Soweit bisherige gerichtliche Strafverfahren rechtskräftig beendet oder eingestellt sind, was auf die allermeisten zutrifft, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie neu aufzurollen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Rechtsauffassungen der Strafgerichte fast durchgängig in völligem Widerspruch zur Sichtweise des Verwaltungsgerichts und zum jetzigen Urteil stehen. Beispiel Wasserwerferprozess: Gesetze und Entscheidungen, mit denen das Verwaltungsgericht seine Rechtsauffassung begründete, hat die Strafkammer ersichtlich nicht geprüft, sich vielmehr der – mittlerweile als rechtswidrig anzusehenden – Einschätzung der Staatsanwaltschaft Stuttgart angeschlossen. Genau das hatten Prozessbeobachter und Beteiligte der Strafkammer schon während des Prozesses,<link http: www.kontextwochenzeitung.de politik elendes-ende-2594.html internal-link-new-window> erst recht nach der Verfahrenseinstellung, vorgeworfen.

Welle neuer Strafanzeigen ist zu erwarten

Auf die Staatsanwaltschaft Stuttgart – oder besser auf eine vom Justizminister zu bestimmende andere Ermittlungsbehörde – könnte jetzt eine Welle von neuen Strafanzeigen von Verletzten des Polizeieinsatzes zurollen. Denn nach der Auffassung des Verwaltungsgerichts war jegliche Anwendung von Mitteln des unmittelbaren Zwangs (Schlagstock, Pfefferspray, Wasserwerfer, aber auch körperliche Gewalt der Polizeibeamten) rechtswidrig. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart vertrat bislang die Auffassung, diese Einsätze seien rechtmäßig und dadurch verursachte Verletzungen gerechtfertigt gewesen (juristisch: Es gab einen Rechtfertigungsgrund für zugefügte Verletzungen). Da nach Auffassung des Verwaltungsgerichts dieser Rechtfertigungsgrund jedoch nicht besteht, sind alle Körperverletzungen rechtswidrig zugefügt worden und strafbar.

Soweit es sich dabei um den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung handelt, sind Straftaten von Polizeibeamten auch nicht verjährt, da die Verjährungsfrist zehn Jahre beträgt. Um gefährliche Körperverletzung (Paragraf 224 des Strafgesetzbuches) handelt es sich, wenn die Verletzung "mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs" zugefügt wird, also hier durch Schlagstöcke, Pfefferspray und andere Reizstoffe sowie Wasserwerfereinsätze.

Auch wenn eine Körperverletzung von zwei oder mehr Polizeibeamten gemeinschaftlich begangen wurde, handelt es sich um eine nicht verjährte gefährliche Körperverletzung. Da ein Verletzter bei diesem Delikt nicht – wie bei einfacher Körperverletzung – innerhalb von drei Monaten einen Strafantrag stellen muss, können Anzeigen wegen gefährlicher Körperverletzung auch jetzt noch erstattet werden. Das gilt selbst dann, wenn eine frühere Anzeige bereits mit dem (rechtlich falschen) Argument, der Polizeieinsatz sei rechtmäßig gewesen, von der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen wurde.

Gefährlich könnte es da nicht nur für Einsatzbeamte werden, sondern vor allem auch für die damalige Polizeiführung. Denn hier fiel die Entscheidung für die rechtswidrigen Einsatzmittel. Heißer Kandidat: der damals wie heute Stellvertretende Stuttgarter Polizeipräsident Norbert Walz. Zwar milderte er die uneingeschränkte Freigabe des unmittelbaren Zwangs etwas ab: Statt flächendeckendem Schlagstockeinsatz Freigabe nur im Einzelfall, statt umfassendem Wasserwerfereinsatz nur Wasserregen. Doch wenn alles rechtswidrig war, <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik nichts-mitgekriegt-vom-katastrophenalarm-2517.html internal-link-new-window>hätte er den Einsatz dieser Mittel ganz stoppen müssen.

Ganz abgesehen von Stumpfs Führungsassistenten, der ohne jegliche Befugnis und ohne Rücksprache mit Stumpf <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik melden-macht-frei-2551.html internal-link-new-window>die Anwendung des unmittelbaren Zwangs ohne jede Einschränkung angeordnet haben soll.

Bürgermeister Schairer im Fokus

Klärungsbedürftig erscheint dazuhin die Rolle, die Stuttgarts Ordnungsbürgermeister Martin Schairer (CDU) am Schwarzen Donnerstag gespielt hat. Der hätte die falsche Entscheidung seines Mitarbeiters Alfons Nastold korrigieren können – und eigentlich müssen. Nastold, damals innerhalb des städtischen Amts für öffentliche Ordnung zuständig für Versammlungen, hatte angeblich vor Ort befunden, dass es sich um eine solche keinesfalls handeln könne. Erst daraufhin hatte die Polizei freie Hand.

Jenes – exklusiv bei Kontext – veröffentlichte Foto vom Feldherrnhügel, das <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik haelt-stumpf-den-kopf-hin-2692.html internal-link-new-window>zu neuen Ermittlungen gegen den ehemaligen Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf führte und dazu, dass dieser heute als vorbestraft gilt, zeigt im selben Umfeld auch Alfons Nastold. Und den einsatzbegleitenden zuständigen Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler. Alle drei hätten erkennen müssen, dass Unrecht ist, was vor ihren Augen passiert. Bestraft wurde bisher nur Stumpf.

Alfons Nastold ist mittlerweile verstorben. Allerdings war sein Chef Schairer, und dazu liegen Kontext glaubhafte Zeugenaussagen vor, zur selben Zeit im Park. Und der Bürgermeister Schairer ist so ziemlich der Letzte, der sagen könnte, er hätte nicht gewusst, um was es da geht. Der promovierte Jurist war Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart, wurde danach – Vorgänger von Stumpf – Polizeipräsident von Stuttgart und dann erst Bürgermeister. Im Ressort Recht und Ordnung.

Zeit, den Schlussstrich zu ziehen?

Von unserer Redaktion

Das Urteil sei "gerecht", befand Winfried Kretschmann. Weitere Reaktionen auf den Spruch des Verwaltungsgerichts Stuttgart zum Schwarzen Donnerstag.

"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Der Polizeieinsatz gegen die Stuttgart-21-Gegner vor fünf Jahren war rechtswidrig. So hat es das Stuttgarter Verwaltungsgericht entschieden – und damit der grün-roten Landesregierung kurz Aufwind im Wahlkampf gegeben."

"Süddeutsche Zeitung": "Man mag es für skurril halten, wie hartnäckig sich Stuttgart und ganz Baden-Württemberg an einem Wasserwerfereinsatz abarbeiten, der fünf Jahre zurückliegt. Aber für die politische Kultur ist das unerlässlich. Die Bilder aus dem Schlossgarten, wo die Polizei am 30. September 2010 dem Baumfälltrupp für das Bahnprojekt Stuttgart 21 überaus rabiat den Weg freimachte, bewegten das ganze Land. Sie standen symbolhaft dafür, wie rücksichtlos der Staat sich durchsetzt. Mehr als hundert Menschen wurden verletzt, viele schwer. Nun also sagt das Verwaltungsgericht Stuttgart: Der Einsatz war rechtswidrig. Ein kleiner, großer Sieg der Freiheit."

taz: "Die Regierung Kretschmann bestand darauf, dass die Polizei richtig gehandelt habe. Jetzt, nach dem Richterspruch, sollte sich Kretschmann im Namen des Landes bei den Opfern entschuldigen und eine schnelle, unbürokratische und angemessene Schmerzensgeldregelung auf den Weg bringen. Sonst bleibt das Urteil eine leere Behauptung."

"Heilbronner Stimme": "Ohrfeige fürs Land."

SWR: "So könnte langsam Frieden in Stuttgart einkehren."

Rainer Wendt, Bundesvorsitzender Deutsche Polizeigewerkschaft: "Richter sind nicht unfehlbar ... Möglicherweise werden keine Wasserwerfer mehr eingesetzt aus Furcht, von Verwaltungsrichtern belehrt zu werden."

Reinhold Gall (SPD), Innenminister: "Als Innenminister und oberster Dienstherr der Polizei Baden-Württemberg bedauere ich natürlich, dass durch unverhältnismäßiges Einschreiten der Polizei Menschen zu Schaden gekommen sind."

Zwuckelmann, Blogger: "Fünf Jahre also, um dann kurz und knackig die Unrechtmäßigkeit festzustellen. Doch warum erst jetzt? Warum so spät? Natürlich ist es eine Genugtuung, dass die Unrechtmäßigkeit endlich festgestellt wurde. Aber was ist seither nicht alles geschehen! In welch anderem Licht hätten viele Ermittlungen, Verfahren und auch die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse gestanden, wäre dieses Urteil nicht erst so spät gekommen."

HNA ("Hessisch/Niedersächsische Allgemeine"): "Auch die überfällige Entschuldigung bei den malträtierten Baumschützern könnte Grün-Rot im Ländle sich nun endlich abringen. Falls das hilft, selbstverständlich mit dem Hinweis versehen, dass 2010 die politische Verantwortung bei einer CDU/FDP-Landesregierung lag."

ntv: "Auch der damalige Polizeichef und Einsatzleiter Siegfried Stumpf akzeptierte einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung. Baden-Württemberg hatte indes beantragt, die aktuelle Klage der Geschädigten abzuweisen."

Heribert Rech (CDU), damals verantwortlicher Innenminister: "Der Einsatz ist aus dem Ruder gelaufen. Das bedauere ich sehr."

"Stuttgarter Zeitung": "Die Einordnung der Stuttgarter Richter ist an Klarheit kaum zu übertreffen. Nach Einschätzung der Juristen ist alles schiefgelaufen, was schieflaufen konnte. Bedauerlich ist jedoch, dass die Bürger so lange auf diese wichtige Einordnung warten mussten. Es ist nicht nachvollziehbar, warum das Gericht dieses Verfahren so lange aussetzte. Denn schließlich ging es um grundlegende Fragen, die bei der Beurteilung der strafrechtlichen Vorwürfe in den nun längst abgeschlossenen Prozessen eine zentrale Rolle gespielt hätten."

"Schwäbische Zeitung": "Die rechtliche Seite des Polizeieinsatzes ist nun beurteilt. Damit der Heilungsprozess beendet werden kann, fehlt allerdings die Antwort auf die Frage, welchen Einfluss die Politik – konkret: die damalige schwarz-gelbe Landesregierung – auf das Vorgehen der Polizei genommen hat."

"Stuttgarter Nachrichten": "Fünf Jahre nachdem weit mehr als 100 Demonstranten durch Pfefferspray und Wasserwerfer teilweise schwer verletzt wurden, ist es Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Deshalb ist es erfreulich, dass Innenminister Gall wohl davon absehen wird, das Urteil anzufechten. Er bedauert, dass Menschen zu Schaden gekommen sind. Damit reicht er den Opfern die Hand, wenn auch reichlich spät. Eine echte Entschuldigung sieht allerdings anders aus."

"Augsburger Allgemeine": "Politisch verantwortlich ist die damalige CDU-geführte Regierung von Ministerpräsident Stefan Mappus. Die von manchem Gegner erhoffte Entschuldigung bleibt ... aus. Aus den Reihen der heutigen Opposition dröhnt nur Schweigen."

NWZ Göppingen: "Das Urteil und die Videosequenzen werfen nun ein neues Licht auf die Geschehnisse des 30. September 2010. Die damals Verantwortlichen – vom Ex-Ministerpräsidenten Stefan Mappus über den ehemaligen Innenminister Heribert Rech bis hin zum damaligen Polizei-Inspekteur Dieter Schneider – hatten wiederholt behauptet, dass der Einsatz aufgrund des 'massiven Widerstands' der Demonstranten gerechtfertigt gewesen sei."

"Badische Zeitung": "So stellt man sich den funktionierenden Rechtsstaat vor. Wo Parlament und Regierung versagen, muss die dritte Gewalt es richten, die Rechtsprechung. Ja, das kann dauern, in diesem Fall volle fünf Jahre. Aber die Ausdauer der Kläger hat sich gelohnt: Ihr verletztes Gerechtigkeitsgefühl scheint geheilt."

ZDF, Claus Kleber am Tag der Urteilsverkündung im "heute-Journal": "Und jetzt, kurz, ein Thema, das an einem anderen Nachrichtentag mehr Raum gekriegt hätte und ihn verdient gehabt hätte."


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


26 Kommentare verfügbar

  • Klaus
    am 15.12.2015
    Antworten
    Villa Reitzenstein,
    17.12.2015,
    17.00 Uhr

    ist der genaue Termin und Ort.

    Welcome!
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!