"Wenn ich heute manchmal am Bahnhof an den Zeugen Jehovas mit ihrem Wachtturm vorbeilaufe, denke ich: Ja, so bist du mit der "Kommunistischen Volkszeitung" vor irgendeinem großen Betrieb gestanden. Dass man die Welt nur noch durch diesen Tunnelblick sehen kann? Wie kommt das?", fragt sich der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, in seinem <link http: www.zeit.de winfried-kretschmann-die-gruenen-glaube-christentum _blank>Interview mit dem Wochenblatt "Die Zeit". Er fragt sich das angesichts des Studiums seiner Akten beim Innen- und Kultusministerium und seiner dort akribisch festgehaltenen Aktivitäten in der "Kommunistischen Studentengruppe/Marxisten-Leninisten" und der Hohenheimer "Kommunistischen Hochschulgruppe"(KHG), eines Ablegers des maoistischen "Kommunistischen Bundes Westdeutschland" (KBW).
Diesem Umfeld entstammte die "Kommunistische Hochschulzeitung (KHZ), die sich um die Kritik der bürgerlichen Wissenschaft kümmerte, um mangelnden Wohnraum und die revolutionären Aktivitäten in Chile. Damals hatte sich Genosse Kretschmann sehr ernsthaft und umfassend im Chile-Komitee mit der Aufarbeitung des Umsturzes der Regierung Allende durch General Pinochet und die USA befasst. Also eine K-Gruppe im Oktober 1973. Und wer die Texte heute liest, kommt eigentlich nicht zu dem Schluss, dass diese jungen Menschen Verfassungsfeinde waren. Sie waren Gegner des herrschenden Systems. Nachzulesen auch in dem <link file:14910>Brief Kretschmanns (23. 9. 1975) an das Oberschulamt Stuttgart, in dem er sich gegen die vorläufige Nicht-Zulassung zum Lehramt wehrte. Da ist nicht vom Klassenkampf die Rede, sondern vom Numerus clausus, von Mieterkämpfen im Studentenwohnheim und von seinem Recht, sich politisch zu betätigen.
Es war politisches Kalkül und Willkür, solche Menschen durch die Berufsverbote-Politik als kritische Geister unter Kontrolle zu bringen.
Wer gegen die "freiheitliche" Werteordnung war, musste kaltgestellt werden
In dieser Logik sind sie die Fortführung der von der Adenauer-Regierung praktizierten Verunglimpfung Andersdenkender, indem diese beim Verfassungsgericht das KPD-Verbot bestellte, um den Anschluss an die NATO zu erreichen und das Ziel, die "freiheitliche" kapitalistische Werteordnung in den Westzonen Deutschlands zu sichern. Wer diese Ziele bekämpfte, musste kaltgestellt werden. In den Parteien, in der Gesellschaft und im öffentlichen Dienst.
Winfried Kretschmann kam wie mehr als 1,2 Millionen Studierende in den Genuss der Gesinnungsschnüffelei des Verfassungsschutzes. Grundlage für dessen großen Ohren, Nasen und unermüdliche Sammelleidenschaft von Worten, Blättern, O-Tönen und Fotos war der "Radikalenerlass" der Regierungschefs des Bundes und der Länder vom 28. Januar 1972. Diese Ausspähung demokratischer junger Menschen setzte sich bis zum Anfang der 90er-Jahre fort, in Baden-Württemberg unter Ministerin Annette Schavan sogar bis zum Jahre 2005 mit dem Berufsverbot von Michael Csaszkoczys. Dieser gewann inzwischen alle Prozesse.
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Insider
am 06.04.2015