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Stückwerk

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Wer aus einem Puzzle ein großes Ganzes machen will, braucht Geduld, Hartnäckigkeit und vor allem am Ende alle Teile. Die grün-rote Landesregierung feiert in diesen Tagen ihren dritten Geburtstag. Noch steht nicht fest, ob der versprochene Wechsel Stückwerk bleibt oder ob Baden-Württemberg tatsächlich und nachhaltig andere Konturen bekommt.

Ein echter Kretschmann: "Politiker verstellen sich den Blick aufs Notwendige, wenn sie immerfort auf ihre Wahlchancen starren." Der Ministerpräsident nimmt für sich in Anspruch, genau das nicht zu tun. Je älter diese 15. Legislaturperiode wird, desto klarer wird ihm allerdings, dass Grün-Rot eine zweite Amtsperiode benötigt – der viele Sachthemen wegen, aber auch um, wie es in der Präambel des Koalitionsvertrags heißt, "mit neuer Sachlichkeit und einer verlässlichen und handwerklich soliden Politik neues Vertrauen in die demokratischen Institutionen in unserem Land zu schaffen".

Mindestens einmal pro Woche stellt sich in der Stuttgarter Innenstadt ein anderes Bild dar. 220. Montagsdemo. "Aussteigen, aussteigen!", ruft der Schriftsteller Jürgen Lodemann zu den Klängen von Beethovens Europahymne in die Menge. Von "peinlicher Nibelungentreue der Grünen" zur Bahn ist die Rede, von ungestillter "Politiksehnsucht", von den tief enttäuschten Hoffnungen. Kein neues Vertrauen ist her geschaffen, sogar die Fähigkeit zu handwerklich sauberer Arbeit wird der Landesregierung abgesprochen. Lodemann, Träger des Stuttgarter Literaturpreises, beharrt darauf, dass das Land noch immer aus S 21 aussteigen kann, weil "Kostenlügen" jedem Vertrag die Grundlage rauben. 

72 Montagsdemos zuvor hätte er Kretschmann noch an seiner Seite gesehen. Inzwischen nennt der Ministerpräsident sich selbst einen "früheren Gegner" und "den Käs gegessen", was nicht nur den Stuttgarter Marktplatz gegen ihn aufbringt. "Beide Parteien respektieren die jeweilige andere Position und sind sich einig im Bestreben, den Streit um Stuttgart 21 zu befrieden und die Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden", schreiben Grüne und SPD vor drei Jahren in ihre Koalitionsvereinbarung ("Der Wechsel beginnt"). Und: "Dazu befürworten beide Parteien die Durchführung einer Volksabstimmung, die Bürgerinnen und Bürger sollen entscheiden."

Die Liebe hielt keine vier Wochen

Schon an dieser Passage wäre die Landesregierung beinahe gescheitert. Noch bevor sie überhaupt stand. Das große Wort von der Liebesheirat hatte eine Halbwertszeit unter vier Wochen. Nächtens und im dritten Anlauf mussten die heiklen Passagen zum Tiefbahnhof Satz für Satz austariert werden. Die grünen Wahlsieger konnten ihren Wunsch, das Ergebnis der Volksabstimmung im Parlament zu bewerten, nicht durchsetzen gegen die bockelharten Sozis. Deren "auf Augenhöhe" war noch vor der Vereidigung des Kabinetts im Landtag umgetextet in "im Alleingang". Bei der Präsentation der 100-Tage-Bilanz Mitte August 2011 im sonnendurchfluteten Rosengarten der Villa Reitzenstein saß ein hemdsärmeliger Ministerpräsident mit der Faust in der Tasche, weil ihn Sozialdemokraten immer wieder vor vollendete Tatsachen stellten.

Woran sich bis heute nichts geändert hat. Kretschmann und seine Grünen haben keine Strategie und kein Rezept gefunden, die stabile vertrauensvolle Gemeinsamkeit zum Markenzeichen der Landesregierung zu machen. Stattdessen immer wieder Querschüsse und Aktionen im Alleingang. Zum Wochenanfang überraschte der rote Fraktionschef Claus Schmiedel mit der Ankündigung, deutlich weniger Lehrerstellen streichen zu wollen als bisher vereinbart – das entsprechende Paket ist eigentlich ausverhandelt und sollte in der kommenden Woche gemeinsam bekannt gegeben werden. Der Regierungschef bleibt dennoch milde, bittet den Koalitionspartner wieder einmal und gebetsmühlenhaft sich doch an Absprachen zu halten. Seinen Ärger lässt er die Öffentlichkeit nur erahnen. 

Überhaupt die Bildungspolitik. Die vielen erfüllten Versprechen, von der Abschaffung der Studiengebühren über die Einführung der Gemeinschaftsschule bis zum Ausbau der Kleinkindbetreuung im Pakt mit den Kommunen – den CDU und FDP nicht zustande brachten –, zählen im öffentlichen Bewusstsein kaum. Überlagert werden sie von der Spardebatte, vom Streit um sexuelle Vielfalt im Bildungsplan oder von der Hängepartie zum heiklen Thema Integration behinderter Kinder. "Die Schulen erhalten die für die Inklusion notwendige personelle, räumliche und sächliche Ausstattung", steht im Koalitionsvertrag, "dabei folgen die Mittel dem Kind und werden der entsprechenden Schule zugewiesen." Klartext statt Politlyrik, was allerdings vom Ergebnis keinen Unterschied macht, wenn der Klartext nicht bezahlbar ist.

Die Schuldenbremse legt die eigene Politik lahm

Das zweite Mantra nach A wie Augenhöhe ist S wie Schuldenbremse. Kretschmann höchstpersönlich war in der Föderalismuskommission II an deren Zustandekommen beteiligt, vor ziemlich genau fünf Jahren beschlossen Bundestag und Bundesrat, dass Bund und Länder demnächst keine neuen Schulden mehr machen dürfen. Wenig bis nichts hält Kretschmann von der Idee, konsumptive Ausgaben von Investitionen zu trennen oder die Niedrigzinsphase für Brücken, Hochschulen, Krankenhäuser, Hochwasserschutz oder energetische Sanierung zu nutzen. "Der Zeitgeist ist pervers", schrieb der aus Pforzheim stammende Wirtschaftsweise Peter Bofinger Grün-Rot schon vor eineinhalb Jahren ins Stammbuch. Es sei "absurd, dass der Staat kein Defizit mehr machen darf, wenn er investiert". Dringend empfahl der Würzburger Professor, im Land einen Zukunftsrat einzurichten, der jene zukunftsfähigen Projekte benennt, für die auch künftig Schulden erlaubt sein sollen. Nichts ist geschehen.

Dabei wäre Geld vielerorts vonnöten in Zeiten, in denen selbst in einem so reichen Land wie Baden-Württemberg erbittert selbst um die Kürzung fünfstelliger Summen gestritten wird, in denen Förderprogramme abseits der Öffentlichkeit aus Spargründen gedehnt werden, weil abgesehen von den Betroffenen niemand so richtig vorhält, ob nun hundert oder zweihundert Anträge bewilligt werden. Dabei liegen beste Beispiel dafür auf dem Tisch, was alles bewirkt werden kann, wenn Geld an der richtigen Stelle fließt: In nur zwei Jahren wurden dank 35 000 zinsverbilligter Darlehen an Private und Mittelständler Investitionen zur Energieeffizienz-Sanierung in Gebäuden von nicht weniger als acht Milliarden(!) Euro angestoßen. "Wir wollen gemeinsam mit der L-Bank ein speziell zugeschnittenes Förderprogramm für kleine und mittelständische Unternehmen sowie den privaten Sektor im Bereich der Energieeffizienz entwickeln und auflegen", steht dazu im Koalitionsvertrag. Drei Programme hat Franz Unterstellers Umweltministerium umgehend gezimmert. Versprochen und nicht gebrochen.

Der Naturschutz hat eine neue Bedeutung bekommen, der Nationalpark ist gegen einen teilweise unappetitlich geschürten Widerstand vor Ort und in der Landtagsopposition seit dem vergangenen Wochenende Realität. Als Neuling auf dem Berliner Parkett darf sich Kretschmann den bundesweiten Suchlauf für ein Atomendlager als seinen persönlichen Erfolg an den Hut heften. Auch der berühmte 14-Punkte-Katalog zur Energiewende trägt seine Handschrift. Damals, nach der entscheidenden Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin, hat er nach seinen eigenen Worten gedacht: "Kretschmann, schon dafür hat sich alles gelohnt." Ebenfalls zur Erfolgsbilanz zählt die weitestgehend geräuschlose Erledigung von Themen, die das Land seit Jahren begleitet hatten. Nirgends in der Republik war schwulen Paaren das Standesamt verschlossen, außer im Südwesten unter der CDU/FDP-Koalition. Grün-Rot machte nach wenigen Monaten Nägel mit Köpfen. Bei der Sondermüll-Entsorgung, die seit der Ära Späth immer wieder für Negativ-Schlagzeilen sorgte, handelte Untersteller mit Hessen und Bayern zügig einen effizienten Vertrag zur gegenseitigen Unterstützung aus. Oder das rasch verabschiedete Tariftreue-Gesetz, das bei öffentlichen Auftragsvergaben Anbieter ausschließt, die Dumpinglöhne zahlen. Oder die Wiederbelegung des darniederliegenden sozialen Wohnungsbaus, für den die Förderung von 45 auf 68 Millionen erhöht wurde, vor allem um in Großstädten bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Oder das Aus für die von der FDP forcierte Privatisierung von Gefängnissen. Oder die Initiativen für "gute Arbeit". Oder die Umkehr der Verhältnisse in der Förderung für Straße und Schiene, die Stärkung des Ökolandbaus, die Verabschiedung neuer Klimaziele sowie eines modernen Rundfunkstaatsvertrags samt Quote und Redaktionsstatut, neue Bestattungsregelungen, um muslimischen Riten Raum zu geben, das Wahlrecht ab 16, die neuen bundesweit einmaligen Richtlinien gegen den Anbau von Gentechnik.

Erfolgsmeldungen ohne Echo

Alles Puzzleteile eben, eines neben dem andern, mit Lücken gesetzt, nur allzu oft zwar nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber ohne großes Echo. Und nahezu immer gegen den Widerstand einer wenig konstruktiven Opposition aus Schwarzen und Gelben, die schwanken, vor allem zwischen Verachtung und Selbstbespiegelung. Für die Statistiker: 75 Gesetzesänderungen sind auf den Weg gebracht worden in den vergangenen drei Jahren, und die Verfassungsänderung zur Bürgerbeteiligung ist fraktionsübergreifend ausverhandelt. Andere große Vorhaben, wie die Polizeireform oder der Ausbau der Windenergie, müssen ihren Praxistest erst noch bestehen. Und so manche in der Koalitionsvereinbarung in Aussicht gestellte Reform ist – wenn überhaupt – auf Wiedervorlage. Als Grünen-Landeschef Oliver Hildenbrand vor Weihnachten SPD-Innenminister Reinhold Gall an die "individualisierte anonymisierte Kennzeichnung der Polizei bei sogenannten Großlagen" erinnerte, handelte er sich jede Menge Ärger ein. Eine Regelung ist weiterhin nicht in Sicht. 

"Um den Stillstand aufzulösen, wurden wir gewählt", steht auch in der Präambel des Koalitionsvertrags, "und diesen Auftrag werden wir besonnen, mit Maß und Mitte erfüllen." Als junger Politiker, sagt Kretschmann, habe er gemeint, "die Welt retten zu können und zu müssen". Das gebe Schwung und Elan und Überzeugungskraft. Heute wisse er genauer Bescheid über die eigenen Möglichkeiten und darüber, "was ich leisten kann". Eines traut er sich auf jeden Fall zu: Den Wiederantritt 2016, um – Alltagsärger hin oder her – im Falle einer Wahl mit der SPD weiter zu puzzeln. Teil für Teil am großen Ganzen ...


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11 Kommentare verfügbar

  • invinoveritas
    am 13.05.2014
    Antworten
    fernderheimat bleibt neben der Spur. Au Scheiße, hätte er schreiben können und sogar sollen, da habe ich Blödsinn verzapft, nämlich etwas komplett Falsches behauptet, und dann habe ich auch noch gemeint, man müsse sich diesen Unfug "letztendlich IMMER WIEDER verdeutlichen". Das war hochgradig…
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