<link https: www.kontextwochenzeitung.de>Koalitionen sind Zweckbündnisse auf Zeit. Warum sollte da ausgerechnet Grün-Rot in Baden-Württemberg eine Ausnahme machen? Aber hätten diejenigen Wähler, die der schwarzen Filzokratie nach beinahe sechs Jahrzehnten ein Ende bereitet haben, nicht wenigstens erwarten dürfen, dass die ungleichen Koalitionäre sich um so etwas wie eine Zweckehe bemühen?
Pfeifendeckel. Eifersüchtig wachen beide Lager darüber, der anderen Seite jeden noch so kleinen Etappenerfolg zu missgönnen.
Typisch dafür der Umgang mit der vermeintlich unstrittigen Bürgerbeteiligung. Da gingen die Wahlsieger demonstrativ in die Vollen. Der grüne Regierungschef berief die Tochter eines prominenten Sozialdemokraten, verpasste ihr den pompösen Titel einer "Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung", stattete sie mit einem monatlichen Ehrensold von 3000 Euro plus Spesen aus und genehmigte ihr einige der insgesamt 180 neuen Stellen in den mit neuen Leitungsstrukturen beglückten Ministerien für den Aufbau eines eigenen Stabes im Staatsministerium. Prompt handelte er sich Kritik der Opposition wegen der kostentreibenden Stellenvermehrung sowie das Murren echter Ehrenamtlicher ein.
Seitdem warten Initiativen im ganzen Land auf die Konkretisierung der vollmundigen Ankündigungen, die der neue Herr vom Reitzenstein bei jeder sich bietenden Gelegenheit als zentrales Element seiner "Politik auf Augenhöhe" unters Volk streut. Allein, Gisela Erler, die bis zu ihrem Ruf nach Stuttgart in Berlin in einer von ihr geleiteten "Familienservice GmbH" vorzugsweise mit Studien befasst war, tut bisher wenig bis nichts, was die Einlösung der Vorschusslorbeeren ihres Mentors rechtfertigen würde. Der hatte die Autorin von Streitschriften und Positionspapieren wie "Mütter an die Macht" oder "Schluss mit der Umerziehung" als "Frau aus der Praxis" vorgestellt. Sie selbst sieht die Chance, nichts weniger als "einen großen Beitrag zur Revitalisierung der Demokratie in ganz Deutschland leisten" zu können.
So weit die Theorie. Und die Praxis? Schon bei der Umsetzung der von Gisela Erler angestrebten Beteiligungsplattform im Internet tun sich ungeahnte Probleme auf. Bürger sollen dort Gesetzentwürfe aller Ministerien kommentieren können. Bis die SPD Bedenken anmeldete. Zankapfel: das Personal, das die Eingaben der Bürger im Netz bearbeiten soll. Das Sozialministerium sah Bedarf für zwei zusätzliche Stellen, das Innenministerium wollte eineinhalb. Nun wurde erst einmal eine abgespeckte Version der Plattform online geschaltet. Zwei Ministerien – ein grünes und ein rotes – sollen jeweils einen Gesetzentwurf einbringen. Nach einem halben Jahr will man dann entscheiden, ob und wie viele zusätzliche Stellen in den Ministerien gebraucht werden.
Winfried Kretschmann: vom Geschmähten zum Exoten
Hatte Grün bereits das Umweltministerium mit seinem Umweltverwaltungsgesetz als virtuelles Versuchskaninchen auserkoren, kündigte Rot durch die bald danach ausgewechselte Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer ein Internet-Beteiligungsverfahren für die Bildungsplanreform an. Im Februar sollte die Plattform starten. Doch Nachfolger Andreas Stoch will erst einmal eine sechsmonatige Pilotphase abwarten.
Tröstlich immerhin, dass sich die Sozialwissenschaftlerin Erler auf Augenhöhe mit dem MP bewegt. Bei seinen zahlreichen Auftritten im Land und gern auch in der Fremde, wo der erste grüne Ministerpräsident und derzeit turnusmäßige Bundesratspräsident an der Spitze eines Verfassungsorgans der Bundesrepublik Exotenstatus genießt. Kretschmann beim Schweizer Bundesrat in Bern, bei der Amtseinführung des neuen Papstes in Rom, nun bei Königin Beatrix der Niederlande, demnächst beim Tête-à-Tête mit weiteren gekrönten und ungekrönten Häuptern, wie unlängst beim Besuch des Vorgängers von Franziskus im Ländle, das hat was. Und es ist offenkundig Balsam für die derben Schmähungen beim ersten Einzug des einstigen KBW-Aktivisten in den Landtag anno 1980. Die gingen tiefer, als es die Kretschmanns bis dato zu erkennen gegeben hatten.
Vielleicht liegt in der heimlichen Sehnsucht nach Anerkennung durch das bürgerliche Lager beim ehemaligen Gymnasiallehrer, dem zeitweise wegen des Radikalenerlasses die Übernahme in den Schuldienst verweigert worden war, die Wurzel für seinen Hang zu präsidialem Gehabe. Dafür erntet er auch in den eigenen Reihen bestenfalls Achselzucken: "Wenn's ihm guttut", lautet einer der harmloseren Kommentare eines langjährigen grünen Mandatsträgers. Substanzieller und verletzender fällt die Kritik aus, kommt die Rede auf seine Prioritäten und sein Amtsverständnis als Chef des Landeskabinetts. Nicht nur die grüne Basis schmerzt seine staatsmännische Pose auch dort, wo eine eindeutige Reaktion erforderlich wäre. Und dies rührt keineswegs nur von dem den Grünen-Wählern nicht zu vermittelnden Schlingerkurs des Vormanns.
Wenn bei den Kundgebungen gegen S 21 wieder mit wachsender Inbrunst "Lügenpack" skandiert wird, so gilt dies fraglos auch Kretschmann, in dem nicht nur der harte Kern der Parkschützer einen Umfaller sieht. Noch manifestiert sich der Ärger in offenen Briefen oder Beschlüssen grüner Kreisverbände und Ortsgruppen. Doch die eigentliche Zerreißprobe steht unmittelbar bevor. Während die Spitzen in Berlin Merkels Machtwort pro S 21 im Bundestagswahlkampf offensiv thematisieren wollen, kündigte Kretschmann zum allgemeinen Entsetzen eine Vollbremsung an. "Es gibt kein Zurück mehr." Er spekuliere auch nicht auf einen möglichen Stopp des Projekts nach der Bundestagswahl.
Damit ging er nicht nur auf Konfrontationskurs zu Jürgen Trittin, Renate Künast und dem in Stuttgart um ein Direktmandat kämpfenden Cem Özdemir, sondern stieß auch seinen Verkehrsminister Winfried Hermann vor den Kopf. Als wäre das Maß nicht schon voll, machte er auch noch Tunnelbohrer Herrenknecht seine Aufwartung. "Hat er sie noch alle", schäumte der Unmut in einschlägigen Internetforen über. Solle er sich lieber endlich mal den renitenten Koalitionspartner vorknöpfen, der vorwiegend durch Alleingänge die vorläufige Bilanz von Grün-Rot versaue. Statt sich vom kleineren Partner piesacken zu lassen, müsse er Kompagnon Nils Schmid zur Disziplin ermahnen und vor allem sich die ständigen Querschüsse von SPD-Lautsprecher Claus Schmiedel verbitten.
Was von zwei Regierungsjahren bleibt, ist ein Szenario des Schreckens
Nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand giften Grüne über Kretschmanns Sozius Schmid. Was mit einem fünfwöchigen Urlaub während der Haushaltsberatungen geradezu geschäftsschädigend begann, setze sich in demonstrativer Untätigkeit fort. Tatsächlich sah Superminister Schmid, der seinem Finanzressort weitere Referate zuschlug, aufreizend lange zu, wie sich die Seiteneinsteigerin Gabriele Warminski-Leitheußer in ihrem Reformeifer heillos verhedderte. Darüber ging fast unter, wie schwer sich Innenminister Reinhold Gall mit der Polizeireform tut.
Vor allem aber wird Schmid wie auch Kretschmann die Langmut gegenüber Justizminister Rainer Stickelberger angelastet. Dass dieser jegliche Aufklärung des dubiosen Rahmenbefehls zum Schwarzen Donnerstag samt allen Weiterungen wie die Durchsuchungsaktion bei Richter a. D. Dieter Reicherter verweigert und sich gar als Schutzschild des vielfältig angreifbaren Oberstaatsanwalts Häußler betätigt, kann nur die CDU freuen.
Dieser Tage hätte es Stickelberger, Schmid und Kretschmann die Schamröte ins Gesicht treiben müssen. Da schüttelte Bundespräsident <link https: www.kontextwochenzeitung.de _blank>Joachim Gauck in Sant'Anna di Stazzema dem Überlebenden des grauenhaften SS-Massakers, Enrico Pieri, die Hand. Diese Geste hatte die hiesige Troika des Wegschauens dem 78-Jährigen verweigert, der eigens nach Stuttgart gereist war. "Scham und Schande" hatte nicht nur Anstifter und Kontext-Autor Peter Grohmann danach empfunden.
"Wenn demnächst Landtagswahl wäre, gingen all diese Versäumnisse in erster Linie mit uns heim", lautet eine verbreitete Sorge unter Grünen. Gewählt aber wird am 22. September der Bundestag. Dass dabei "Merkel 21" den Zornesruf "Nie wieder Grün" verdrängt, ist eine sich verflüchtigende Hoffnung, seitdem der "Herr Minischderpräsidend" die Parole "Es gibt kein Zurück" ausgab und sein Sozius Schmid samt Zerberus Schmiedel dazu feixte.
Bleibt als Szenario des Schreckens, dass Grün-Rot derzeit alles tut, um das Lager der Nichtwähler zu stärken.
Bruno Bienzle war bis 2007 ein Vierteljahrhundert Leiter der Lokalredaktion der "Stuttgarter Nachrichten".
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