"Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wird offenbar von einem größeren Skandal heimgesucht. Ermittler gehen nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und Radio Bremen davon aus, dass eine leitende Mitarbeiterin der Behörde in etwa 2000 Fällen Asyl gewährt haben soll, obwohl die rechtlichen Voraussetzungen dafür nicht gegeben waren." Mit diesen Worten begann am 20. April 2018 ein Text in der "Süddeutschen Zeitung". In den Sendungen der an der Recherche beteiligten ARD-Anstalten klang es ähnlich. Diese Berichterstattung löste damals eine Hyperventilation in anderen Medien und nicht zuletzt im Politikbetrieb aus. "So funktionierte der Asyl-Betrug im Bremer Migrations-Amt", schlagzeilte die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" noch am selben Tag. Einige Wochen später bezichtigte der CSU-Politiker Stephan Mayer, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Mitarbeiter der Bremer Bamf-Außenstelle, "hochkriminell" und "bandenmäßig" gehandelt zu haben.
Fast ein Jahr später, am 21. März 2019, berichtete erneut die "Süddeutsche Zeitung" unter Berufung aufs Bundesinnenministerium, dass rund 13 000 seit dem Jahr 2000 von der Bremer Bamf-Filiale angelegten Asylakten überprüft, aber nur 28 positive Entscheide zurückgenommen worden seien. Laut aktuellen Zählungen – eine 36 (!) Personen starke Sonderkommission recherchiert noch – sind es 52 Rücknahmen. Das wären 0,4 Prozent. Unklar ist aber noch, wie viele dieser Rücknahmen rechtskräftig geworden sind.
Erst der Rufmord, dann die Recherche
Seit dem Juni 2018 wird die Ausgangsberichterstattung verschiedener Medien immer wieder kritisch aufgegriffen, eine ständig aktualisierte Chronik dazu führt Henning Ernst Müller, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Uni Regensburg. "Der eigentliche Bamf-Skandal – erst der Rufmord, dann die Recherche?", lautet die Überschrift seines Blogbeitrags. Im Mai hat die taz die Frage aufgeworfen, ob für die Berichterstattung über den vermeintlichen Bamf-Skandal nicht das Schlagwort "Medienskandal" angemessen wäre.
Darüber wird am Freitag der kommenden Woche nun auch auf der Jahrestagung der renommierten Journalistenorganisation "Netzwerk Recherche" in Hamburg diskutiert. "Die Bamf-Affäre. Grenzen der Verdachtsberichterstattung", lautet der Programmpunkt. Es geht darum, ob den beteiligten JournalistInnen handwerkliche Fehler unterlaufen sind. Auf dem Podium sitzt unter anderem die NDR-Redakteurin Christine Adelhardt. Sie hat die Verdachtsberichterstattung in diesem Fall bereits mehrmals als gerechtfertigt bezeichnet.
Nun ist es zwar möglich, nachträglich Falschberichterstattung aufzudecken und die Gründe dafür zu benennen. Was aber naturgemäß nicht möglich ist: die Folgen der Berichterstattung ungeschehen machen. "Der Bremer Asylskandal wurde zur medialen Tatsache und nachfolgend zum Brandbeschleuniger in der gesamten Flüchtlings- und Migrations-Debatte", sagte der Anwalt Henning Sonnenberg, der einen der derzeit neun Beschuldigten vertritt, bereits im vergangenen Herbst.
Ein Opfer der Brandbeschleunigung war Jutta Cordt: Am 13. Juni 2018 setzte Innenminister Horst Seehofer sie von ihrem Posten als Präsidentin des Bamf ab – wegen ihrer vermeintlichen Mitverantwortung für Vorfälle, die nach heutigem Stand nicht einmal annähernd in dem einst angenommenen Umfang stattgefunden haben. Seit Oktober 2018 ist sie im Innenministerium tätig, im Rang einer Ministerialdirigentin. Sie sei "um drei Gehaltsstufen nach unten" gefallen, verdiene nunmehr "rund 1.700 Euro weniger monatlich", schrieb die taz dazu.
Handwerkliche Fehler oder bewusste Meinungsmache?
Ob und welche handwerklichen Fehler den beteiligten Journalisten von SZ, NDR und Radio Bremen unterlaufen sind – darüber zu diskutieren, ist wichtig. Interessanter ist aber noch eine andere Frage: Wie sehr haben die beteiligten Journalisten gewollt, dass die skandalösen Vorgänge, die sie als möglich beschrieben haben, wirklich stattgefunden haben?
Man kann die anfängliche Berichterstattung über die Bremer Bamf-Außenstelle durchaus als ein Symptom sehen für jüngere Entwicklungen im Milieu des linksliberalen Journalismus. Wann immer im Raum steht, es gebe zu viele positive Asylrechtsbescheide oder es werde nicht genug oder nicht effizient genug abgeschoben, stehen linksliberale Journalisten Gewehr bei Fuß.
1 Kommentar verfügbar
Alexander Wintzen
am 12.06.2019