KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Kunstverein verschenkt Geld

Geben ohne Nehmen

Kunstverein verschenkt Geld: Geben ohne Nehmen
|

Datum:

Eintrittsgeld mal anders: Zur Eröffnung ihrer Ausstellung "Donorsday" im Kunstverein Nürtingen drücken Sylvia Winkler und Stephan Köperl ihren Gästen echte Scheine in die Hand. Auch Kontext profitiert davon.

Es kommt nicht so oft vor, dass man beim Besuch einer Ausstellung statt Eintritt zu zahlen einen Fünf-Euro-Schein ausgehändigt bekommt. Der Donnerstag, Tag der Eröffnung im Kunstverein Nürtingen, mutiert zum "Donorsday", zum Gebertag. Stephan Köperl und Sylvia Winkler geben die Hälfte ihres Ausstellungshonorars an die Besucher:innen weiter.

Allerdings nicht, damit diese das Geld in die eigene Tasche stecken. An einer Reihe hölzerner Gestelle hängen Schilder und Informationen zu 32 zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Bereichen wie Bildung, Demokratieförderung oder Transparenz – und jeweils eine Spendenbox. In eine davon sollen die fünf Euro hinein. Oder besser noch mehr, wenn es wirklich ein Tag des Gebens und nicht nur des Weitergebens sein soll.

Der Gedanke, sein – mal mehr, mal minder hart verdientes – Geld ohne konkrete Gegenleistung abzugeben, mag heute für manche befremdlich erscheinen. Tatsächlich war das Geben, wie der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi in seinem 1944 in den USA erschienenen Buch "The Great Transformation" aufzeigt, bis zur Entstehung der modernen Marktwirtschaft überall auf der Welt die Basis der Ökonomie: Wer Macht und Einfluss wollte, musste etwas von seinem Wohlstand abgeben. Wie Polanyi am Beispiel des Potlatch der Kwakiutl an der Westküste Nordamerikas zeigt, gab es dabei manchmal regelrechte Überbietungswettkämpfe. Eine Umverteilung des Reichtums war die Folge.

Adam Smith stellte hingegen in seinem 1776 erschienen Werk "Der Wohlstand der Nationen" die These auf, dass es für den Staat, die Nation, das Land als Ganzes am besten sei, wenn jeder seine eigenen Interessen verfolge, und erklärte, der Staat müsse das Privateigentum schützen. Angeblich ist der Liberalismus, wie ihn Adam Smith vertrat, zugleich auch der beste Garant für die Demokratie. Was die Soziologin Annette Ohme-Reinicke in ihrer Eröffnungsrede im Nürtinger Kunstverein ausführte, kann daran erhebliche Zweifel aufkommen lassen.

Kunstrasen ohne Graswurzeln

Ohme-Reinicke zitierte den Politikwissenschaftler Giovanni Sartori, demzufolge derzeit ein Krieg um die Demokratie tobe: "Liberale Demokratie, soziale Demokratie, partizipative Demokratie: Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, wie die vorhandenen Güter und Ressourcen am besten verteilt werden; es geht es um Besitz und Eigentum, um Macht und Herrschaft."

Wie die Soziologin feststellt, werde "zivilgesellschaftlichen Organisationen zurzeit leider der Kampf angesagt". 1.200 Nichtregierungsorganisationen und ebenso viele Einzelpersonen ließen verschiedene Bundesministerien durch den Verfassungsschutz überprüfen. Am Vortag der Eröffnung hatte die Bundesregierung beschlossen, die Bürgerräte – durch ein Losverfahren bestimmte beratende Gremien – abzuschaffen. Das Medienportal "Nius" des früheren "Bild"-Chefredakteurs Julian Reichelt habe eine Kampagne gegen Vereine wie Lobbycontrol gestartet. Klimaschutz-Initiativen wie die "Letzte Generation" würden zunehmend kriminalisiert.

Auf der einen Seite werde Vereinen wie dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac oder der Kampagnenplattform Campact, die sich für Demokratie und Gerechtigkeit einsetzen, die Gemeinnützigkeit aberkannt. Auf der anderen, so Ohme-Reinicke, stehe das Astroturfing, benannt nach einer Kunstrasen-Marke: scheinbare Graswurzelbewegungen, "die nur so aussehen, als würden sie die Meinung und Interessen der Zivilgesellschaft vertreten". Etwa die "Energy Citizens", eine Lobbyorganisation für fossile Energie, oder die vom Chemiegiganten Bayer mit gegründete "Initiative für Transparente Demokratie".

"Seit 2020 sind die Lebensmittelpreise um 37 Prozent gestiegen", bilanzierte Ohme-Reinicke die wachsenden sozialen Verwerfungen. "5,3 Millionen Menschen schalten ihre Heizung nicht ein und frieren, um Kosten zu sparen. Jedes siebte Kind wächst in Deutschland in einem Haushalt auf, der von staatlichen Leistungen abhängig ist." Dem steht ein obszöner Reichtum gegenüber: Den Wohlhabenden stünden nahezu unbegrenzte Mittel zur Verfügung, die Entscheidungen der Politik in ihrem eigenen Interesse zu beeinflussen.

Niemand überlebt allein

Ob Spenden daran etwas ändern kann? Auch Parteispenden sind Spenden, aber eher ein Teil des Problems. Wenn jemand dagegen spende, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, zeige sich darin eine Haltung: "eine bestimmte Vorstellung guten Zusammenlebens", nämlich "das Wissen darum, dass wir aufeinander angewiesen sind und keiner allein überleben oder gut leben kann. Beim bedingungslosen Spenden wird der andere als jemand anerkannt, ohne den wir selbst nicht überleben könnten. Wir ahnen, dass wir selbst der andere sein könnten."

Die Ausstellung gliedert sich in sieben Bereiche, von Bildung über Demokratieförderung – etwa mit den Omas gegen Rechts oder der Initiative offene Gesellschaft – bis zum digitalen Raum, unter anderem mit dem Chaos Computer Club, Algorithm Watch oder netzpolitik.org. Rechtsschutz wird ebenso gewürdigt wie Transparenz. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Journalismus mit sechs Akteuren vom amerikanischen Sender "Democracy Now!" bis zur Kontext:Wochenzeitung, die somit zu den direkten Günstlingen der Aktion zählt. 

Beim Stichwort Umverteilung ordnet sich – neben Attac, der Bürgerbewegung Finanzwende und dem Netzwerk Steuergerechtigkeit – schließlich auch das Künstlerpaar selbst mit ein. Schließlich wollen Sylvia Winkler und Stephan Köperl mit ihrer Ausstellung zu einer gerechteren Verteilung beitragen. Wenn auch, wie immer in der Kunst, in geringen Umfang, eher symbolisch, als Signal.

Wie viele Spenden jede einzelne der 32 zur Auswahl stehenden Organisationen erhält, wird sich in der Finissage am 18. Januar ab 16 Uhr herausstellen, wenn Sylvia Winkler und Stephan Köperl die Spendenboxen aufschrauben, die Scheine zählen und die Beträge vor den Augen des Publikums – Transparenz ist alles! – an die Empfänger überweisen.


Der Kunstverein Nürtingen, Galgenbergstraße 9, ist donnerstags von 17 bis 20 Uhr und sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet, nur nicht von Weihnachten bis 6. Januar.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!